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Cover Lettre International 72, Shana & Robert ParkeHarrison
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LI 72, Frühjahr 2006

Was ich hörte vom Irak im Jahr 2005

2005 hörte ich, daß Streitkräfte der Koalition in den Ruinen Babylons untergebracht seien. Ich hörte, daß Bulldozer Gräben durch das Gelände gezogen und Flächen für Hubschrauberlandeplätze und Parkplätze planiert hätten, daß Tausende von Sandsäcken mit Erde und archäologischen Fragmenten gefüllt worden seien, daß ein 2 600 Jahre altes Ziegelpflaster von Panzern zermalmt worden sei und die mit Drachen verzierten Backsteine von Soldaten als Souvenirs aus dem Ischtar-Tor herausgebrochen wurden. Ich hörte, daß die Ruinen der sumerischen Städte Umma, Umm al-Akareb, Larsa und Tello vollständig zerstört und nun Kraterlandschaften seien.

Ich hörte, die USA planten eine Botschaft in Bagdad, die 1,5 Milliarden Dollar kosten soll, ebensoviel wie der Freedom Tower auf Ground Zero, der das höchste Gebäude der Welt werden soll.

Ich sah in der Los Angeles Times folgende Schlagzeile: „Stadt zerbombt – USA wollen Vertrauen aufbauen“.

Ich hörte, daß Militärangehörige nun „sprechende Karten“ mit Sätzen mitführten wie „Wir sind ein Team, das auf Werten gründet, den Menschen in den Mittelpunkt stellt und danach strebt, Würde und Respekt aller zu bewahren.“

Ich hörte, 47 Prozent der Amerikaner glaubten, Saddam Hussein habe bei der Planung von 9/11 mitgewirkt, und 44 Prozent glaubten, die Entführer seien Iraker gewesen. 61 Prozent glaubten, Saddam habe eine ernste Bedrohung für die USA dargestellt, und 76 Prozent meinten, die Iraker seien jetzt besser dran.

Ich hörte, der Irak zähle nun zusammen mit Haiti und dem Senegal zu den ärmsten Ländern der Welt. Ich hörte die Menschenrechtskommission der UN berichten, die akute Unterernährung bei irakischen Kindern habe sich seit Ausbruch des Krieges verdoppelt. Ich hörte, nur fünf Prozent des Geldes, das der Kongreß für den Wiederaufbau bewilligte, seien tatsächlich ausgegeben worden. Ich hörte, in Falludscha lebten die Menschen in Zelten, die auf den Ruinen ihrer Häuser stünden.

Ich hörte, der diesjährige Haushalt enthalte auch 105 Milliarden Dollar für den Krieg im Irak, womit er sich insgesamt auf 300 Milliarden Dollar belaufe. Ich hörte, Halliburton schätze, seine Rechnung für Lieferungen an die US-Truppen im Irak werde 10 Milliarden Dollar überschreiten. Ich hörte, die Familien der getöteten amerikanischen Soldaten erhielten 12 000 Dollar.

Ich hörte, das Weiße Haus habe das Kapitel über den Irak vollständig aus dem Jahreswirtschaftsbericht des Präsidenten gestrichen, da es nicht zu dem ansonsten heiteren Ton passe.

Binnen einer Woche im Januar hörte ich Condoleezza Rice sagen, 120 000 irakische Soldaten würden ausgebildet, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten; ich hörte Senator Joseph Biden, Demokrat aus Delaware, sagen, die Zahl liege eher bei 4 000; und ich hörte Donald Rumsfeld sagen: „Tatsache ist, daß 130 200 ausgebildet und ausgerüstet worden sind. Das ist eine Tatsache. Daß die Zahl falsch sei, stimmt einfach nicht. Die Zahl ist korrekt.“

Ich hörte ihn die Diskrepanz erklären: „Werden denn täglich welche getötet? Aber sicher. Gehen manche zu Zeiten in Pension oder werden verletzt? Ja, die sind weg.“ Ich erinnerte mich, daß er ein Jahr zuvor gesagt hatte, die Zahl liege bei 210 000. Ich hörte das Pentagon bekannt geben, es werde keine Zahlen mehr über irakische Truppenstärken herausgeben.

Ich hörte, 50 000 US-Soldaten im Irak hätten keine Körperarmierung, weil der Chef der Armeeausrüstung diese auf dieselbe Prioritätsstufe wie Socken gesetzt habe. Ich hörte, manche Soldaten kauften sich vom eigenen Geld kugelsichere Westen mit „Trauma“-Stahlplatten, Camelbak-Trinksysteme, Schießbrillen, Knie- und Ellbogenschützer, Magazintaschen für Munition und Multifunktionswesten. Ich hörte, sie montierten Metallschrott als Schutz gegen Straßenbomben an ihre Fahrzeuge, da die Produktion gepanzerter Humvees über ein Jahr im Plan zurückliege, und daß die wenigen verfügbaren gepanzerten Fahrzeuge hauptsächlich für Offiziere und prominente Besucher reserviert seien.

Ich hörte, daß an die private Sicherheitsfirma Custer Battles 15 Millionen Dollar gezahlt worden seien, um Zivilflüge am Flughafen Bagdad zu einer Zeit zu sichern, in der gar keine Flugzeuge flogen. Ich hörte, die amerikanischen Streitkräfte seien noch immer nicht in der Lage, die 12 Kilometer lange Autobahn vom Flughafen zur Grünen Zone zu sichern.

Ich hörte, der Onkel des Präsidenten, Bucky Bush, habe eine halbe Million Dollar Gewinn aus seinem Aktienbezugsrecht bei Engineered Support Systems Inc. gemacht, ein Rüstungsunternehmen, das für Arbeiten im Irak 100 Millionen Dollar erhalten habe. Bucky Bush sitzt im Aufsichtsrat, aber ich hörte Dan Kreher, den Chef der Investorenbeziehungen bei ESSI, sagen: „Daß sein Neffe im Weißen Haus ist, hat absolut nichts damit zu tun, daß Mister Bush bei uns im Aufsichtsrat sitzt, oder damit, daß unsere Aktie in den vergangenen fünf Jahren um 1000 Prozent gestiegen ist.“

Ich hörte, daß eine Prüfung lediglich eines Teils der Verträge mit Halliburton durch das Pentagon 100 Millionen Dollar an „fragwürdigen Kosten“ ergeben habe. Der Kauf von Flüssiggas im Wert von 82 100 Dollar und eine Rechnung über 27,5 Millionen Dollar für dessen Transport wurden erwähnt. Ich hörte, daß acht weitere Regierungsprüfungen bei Halliburton als „geheim“ eingestuft und nicht für die Öffentlichkeit freigegeben worden seien.

Ich hörte, daß die Afroamerikaner normalerweise 23 Prozent der aktiven Truppe stellten, daß aber die Rekrutierung von Afroamerikanern seit Beginn des Krieges um 41 Prozent gefallen sei. Ich hörte, eine für die Armee erstellte US Military Image Study habe empfohlen, „damit die Armee ihre Auftragsziele mit Future Force Soldiers erfüllen kann, muß sie ihr Image wie auch ihr Leistungsangebot überprüfen“.

Ich hörte, das Militär entwickle Robotersoldaten. Ich hörte Gordon Johnson vom Joint Forces Command im Pentagon sagen: „Die werden nicht hungrig. Die haben keine Angst. Die vergessen nicht ihren Auftrag. Denen ist es egal, ob der Mann neben ihnen gerade erschossen worden ist.“ Ich hörte ihn sagen: „Man hat mich gefragt, was passiert, wenn der Roboter statt eines Panzers den Schulbus daneben zerstört. Die Anwälte sagen mir, es sei nicht verboten, daß Roboter Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Diese Entscheidung überlassen wir einem Roboter erst, wenn wir sicher sind, daß er sie auch treffen kann.“

(…)

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