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LI 133, Sommer 2021

Elysische Felder

Die Mathematik des Unendlichen und ein hybrider Raum der Moderne

(...)

François Collet: Sehen Sie die Champs-Élysées als einen emblematischen Ausdruck des Perspektivsystems an, das im französischen Garten wirkt?

Allen S. Weiss: Ursprünglich, als Ludwig XIV. im Jahre 1667 Le Nôtre mit dem Projekt der Champs-Élysées beauftragt (diesen Namen erhielten sie jedoch erst 1709), bildeten sie eine visuelle Erweiterung der Tuilerien. Doch sehr bald werden sie in eine Straße umgewandelt, um den Tuilerienpalast mit dem Schloß Versailles zu verbinden und mit diesem einen ästhetischen und auch praktischen Zusammenhang herzustellen. Von den Tuilerien aus boten sie eine weite Perspektive auf die Größenordnung der Gärten, die sich vom Schloß von Versailles aus in die Landschaft erstreckten; außerdem dienten sie als „Große Promenade“ bis hin zur königlichen Domäne von Saint-Germain-en-Laye und darüber hinaus nach Versailles. Da die Tuilerien ein königlicher Palast waren, stellte die von dieser großen Achse formalisierte Perspektive auf konkrete und formelle Weise eine königliche Vision dar und war folglich emblematisch und symbolisch.
     Die Linearperspektive ist eine Art des Sehens, der Organisation, des Repräsentierens und des Schaffens. Im Rahmen dieses Systems gehört zu jedem Blickpunkt ein Fluchtpunkt, und beide sind durch eine gerade Linie verbunden. Eine gerade Linie auf einer Ebene ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten. Eine gerade Straße erfüllt ihren praktischen Zweck am besten. Wirkungsvolle Gartenpflanzungen werden im allgemeinen in geraden Linien vorgenommen. Sie geben den Baumreihen und den Straßen ihre Form, so daß diese ihren Nutzfunktionen gerecht werden. Ebenso verbessert die Begradigung eines städtischen Labyrinths durch den Bau großer Boulevards (ein Projekt, das in der Zeit Le Nôtres beginnt und seinen Höhepunkt mit den Umgestaltungen Haussmanns im 19. Jahrhundert erreicht) die Situation des Transportwesens und erleichtert die Kontrolle von Menschenmassen, wobei sie zugleich ein Symbol der Macht bildet. In diesem Sinne stellt eine breite, in eine Linearperspektive gelegte Zentralachse ein mächtiges Symbol dar. Le Nôtre hat diese nicht erfunden, denn die Struktur der Zentralachse dient seit unvordenklichen Zeiten als Zeichen der Macht, doch ihm verdankt man ihre Einbeziehung in eine weite symbolische Struktur, zur Verherrlichung des Sonnenkönigs.

(…)

Versailles vermittelt den feierlichen Eindruck der sakralen Macht des Königs. Der symbolische Raum äußert sich durch einen außermenschlichen Maßstab und die Hervorhebung des ins Unendliche gerückten Fluchtpunktes als Symbol des Absolutismus. Die Champs-Élysées waren etwas ganz anderes, nämlich eine offene Verlängerung des Urbanen ins Ländliche, ein hybrider, ästhetischer und praktischer Raum: Die Inauguration der Moderne in eine im Prinzip noch mittelalterliche Stadt. Es war, was wir heute ein „Mischgebiet“ nennen: eine Art Garten, aber im weiteren Sinn des Begriffs.

 

François Collet: Man führt die theoretischen Grundlagen der Moderne oft auf Descartes zurück. Sind Sie der Meinung, daß sie von Le Nôtres Arbeit an den Champs-Élysées konkret verräumlicht wird?

Allen S. Weiss: Die Moderne geht von vielerlei Quellen an vielen Orten aus. Eine der wichtigsten, die Descartes, Pascal und andere im 17. Jahrhundert etablieren, ist die Mathematisierung des Unendlichen. Bis zu jener Zeit diente die Unendlichkeit als Prädikat zur Beschreibung der transzendenten Attribute Gottes, als ein Zeichen für das, was jenseits der Grenzen des menschlichen Verstehens existiert, und als ein Symbol für die Unvergleichbarkeit des Menschlichen und des Göttlichen. 
     Doch mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung hat das Unendliche radikal andersartige — sowohl mathematische als auch praktische — Funktionen übernommen. Um sich der offenkundigen Ketzerei einer solchen Theoretisierung zu entziehen, hat man zwei Ordnungen der Unendlichkeit, eine theologische (das Unendliche) und eine andere mathematische (das Unbestimmte) unterschieden: eine absolut unzugängliche Transzendenz, die verschieden ist von einer vollständig berechenbaren Welt. Diese Zweiteilung hatte ästhetische Implikationen: Wie Panofsky in Die Perspektive als „symbolische Form“ (1924) in bezug auf die Malerei erklärt hat und wie ich dies in Mirrors of Infinity („Spiegel der Unendlichkeit“, 1992) in bezug auf Gärten dargelegt habe, stellte das Erscheinen des Fluchtpunktes eine konkrete Manifestation des Unendlichen dar, eines Unendlichen innerhalb der Welt und voller symbolischer Implikationen.
     Was Le Nôtre anbelangt, so hat die Benutzung der Linearperspektive bei der Planung seiner Gärten, ganz gleich, ob es sich um Vaux-le-Vicomte, Versailles oder die Champs-Élysées handelt, folglich etwas geschaffen, was man eine auf der doppelten Bedeutung des Unendlichen beruhende „moralische Geometrie“ nennen konnte. Da im Garten die optische Darstellung des Unendlichen im Fluchtpunkt „eingefangen“ wurde, gewinnt sie symbolische Konnotationen.

(…)

 

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