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Cover Lettre International 76, Anne-Mie van Kerckhoven
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LI 76, Frühjahr 2007

Brasilianischer Fussball

Das grösste Spektakel der Welt - Glücksversprechen und Zauberdroge

(...) Man kann sagen, daß der brasilianische Fußball zwischen 1974 und 1994 in Form einer Krise alle Veränderungen durchmachte, die auch den Fußball weltweit betrafen: die intensive Nutzung des gesamten Spielfelds und die genaueste, auf viele Schultern verteilte Manndeckung. 1994 löste man den Engpass, indem man einen Ausnahmezustand schuf: eine eiserne Taktik wurde mit dem unnachahmlichen Talent genialer Stürmer verbunden, Tore durch Einzelaktionen zu erzielen. Es handelte sich um eine nicht-synthetische Verbindung zwischen planvollem Sicherheits- und Ergebnisfußball und den tödlichen Schüssen eines Mittelstürmers, der aufgrund eigener Erfahrungen sowie einer langen Tradition die ungeahnten Wege kannte, die zum Torerfolg führen. Der Preis dieses ausgesprochen pragmatischen Unternehmens bestand in einer beträchtlichen Ernüchterung, die bei den Fans wegen des Ausbleibens eigener Erfolge deutlich zutage trat: 1970 und 1982 fehlte es an dieser Feinabstimmung zwischen Prosa und Poesie, die die Welt beim brasilianischen Fußball – ganz unabhängig von Erfolg oder Niederlage – zu sehen gewohnt war. 

Aber trotz allem, was dieses Modell an Extremem, Künstlichem und Unbeständigem beinhaltete: Die 1994 von der Nationalmannschaft entdeckte Lösung gab Brasilien die Möglichkeit – jetzt auch durch Ergebnisse begünstigt –, sich auf neue Art im Weltfußball zu etablieren, auch wenn dies auf Kosten der Attraktivität des Spieles ging und zu gewissen Frustrationen führte. Jedenfalls hatte sich der brasilianische Fußball, nachdem er sich an die Systeme intensiver Manndeckung und einer gewissen Neutralisierung der Zufälligkeiten des Spiels angepaßt hatte – was im allgemeinen zu einer Nivellierung und Reduzierung der Unterschiede zwischen den Mannschaften führte –,  in gewisser Weise einen eigenen Charakter bewahrt, indem er sich durch minimale Spielzüge auszuzeichnen wußte und eine im globalisierten Fußball immer seltener gewordene kulturelle Eigenart zur Geltung brachte. Genau dies hat sich zwischen 1994 und 2002 schließlich ereignet: Nachdem 1994 der Knoten, den anzusprechen schon zu einem Tabu geworden war, endlich geplatzt ist, erreicht Brasilien zusammen mit den Weltmeisterschaften von 1998 und 2002 drei Endspiele in Folge und wird fünfmaliger Weltmeister, mit weitem Abstand vor den übrigen Nationen. In dieser Zeit wachsen den alten Komplexen des peripheren Landes notwendigerweise neue Aspekte zu: von einem globalisierten Fußballmarkt verlockt, gehen die besten brasilianischen Spieler fast alle nach Europa, wo sie viel Anerkennung bekommen. Und auch weniger bekannte Profis werden weltweit aktiv. Wenn die „Supermacht“ Brasilien seine Fußballer nach Spanien, Italien, Frankreich, England und sogar nach Malta, Japan und China exportiert, wie es 1998 ein französischer Reporter humorvoll darstellt, „geht im brasilianischen Fußballreich die Sonne niemals unter“, was es zu einem kuriosen und scherzhaften Ersatz des britischen Weltreichs machte.

Gleichzeitig verwandelt sich das Erscheinungsbild des Fußballs von innen heraus: durch die intensive physische und athletische Vorbereitung, das absolute Dichtmachen der Räume, die Verschärfung der Zweikämpfe zur Verhinderung des gegnerischen Spielaufbaus, das systematische und absichtliche Foulspiel zur Unterbrechung des Spielflusses – all dies verbunden mit einer enormen Fluktuation in den Mannschaften, deren Aufstellungen sich so schnell auflösen, daß eine organische Entwicklung kaum mehr möglich ist. Diese Faktoren – allesamt Symptome einer weltweit verschärften Konkurrenz – bewirken eine Veränderung des Spielcharakters, der etwas von den destruktiven Zusammenstößen des American Football oder Rugbys bekommt und viel von der kompakten Strategie eines Schachspiels auf der Suche nach Flankenangriffen bei versperrten Räumen, was einer utopischen Mischung von Prosa und Poesie, die den „Gipfel der Moderne“ dieses Sports ausmachte, immer weniger Raum läßt. Zwar sind Prosa und Poesie im Fußball noch erkennbar, aber die Zeiten, als die scheinbar selbstlose Poesie noch ins Auge sprang, sind vorbei. Dafür gerät der Wettkampffußball, wenn er gut gespielt wird, offenbar in die Nähe einer anderen, reflektierteren Gattung: nicht die der Poesie, sondern einer Art essayistischer Prosa, die sich um Poesie bemüht.

Die vorherrschende intensive Kapitalvermarktung des Bildes durch zur Schau gestellte allgegenwärtige Werbung auf Trikots, Hosen, Strümpfen, auf den um den Rasen postierten Werbeplakaten, die sichtbaren Markensymbole auf Bällen, Fußballschuhen, Uniformen und Spielern; das Spekulationsroulett und die Millionenverträge, die Überfrachtung der Spielpläne: All dies trägt dazu bei, den Selbstzweck des Fußballspiels in den Bereich der Legende zu verweisen. Gleichzeitig scheint die postimperiale Internationalisierung des Fußballs zu einer Auflösung von Schulen und Traditionen, von nationalen Spielweisen, kulturellen Eigenheiten und festgefügten Hegemonien zu führen. Trotzdem ist der zeitgenössische Fußball vielleicht noch der Ort, wo das Substrat dieser Traditionen und das, was man ihnen entnommen hat, am stärksten sichtbar bleibt.

Um das zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, was ihn von den anderen Ballspielen unterscheidet. Im Gegensatz zum Basket- oder Volleyball, zum Hockey oder Hallenfußball – alles später entstandene Spiele von klar urbanem Charakter, die auf Hartgrund und meist in der Halle gespielt werden – wird Fußball an der frischen Luft gespielt, auf Erdboden oder Rasen, auf einem großen und oft mitten in der Natur befindlichen Feld, in Regen, Schlamm und Schnee sowie mit „Torjägerhubbeln“ (Unebenheiten des Spielfeldes, die das Spielgeschehen bisweilen beeinflussen). Er ist unauflöslich mit diesen natürlichen Dimensionen verbunden, mit ländlichen Aspekten, was mit der Bedeutung des Ländlichen für das Leben der Engländer zusammenhängt, was ihm aber auch dazu verhalf, von ganz verschiedenen Kulturen, vielerlei Ethnien und Gesellschaftsschichten akzeptiert zu werden. Im Unterschied zum Volleyball, Basketball oder American Football, wo die Zeit durch einen Spielablauf zusammengedrängt wird, der nicht viel Raum für Phantasieausflüge läßt, ist der zeitliche Verlauf beim Fußball flexibler, variabler, erlaubt verschiedene Rhythmen und Gangarten während eines Matches, so daß Raum bleibt für eine ganze Reihe verschiedenartiger Erzählformen, die vom Epischen über das Dramatische bis hin zum Burlesken, Lyrischen und Parodistischen reichen, nebst den Abstufungen zwischen Prosa und Poesie.
 
Dadurch eignet sich der Fußball mehr als andere Sportarten zum Ausdruck verschiedener kultureller Zeitauffassungen: Durch diesen offenen Raum wurde er in Brasilien neu erfunden. Der Fußball eignet sich kaum zu numerischer Darstellung. (Man kann ihn statistisch nicht erfassen.) Wegen seiner entspannt-lockeren Abfolge in der Zeit paßt er zum Beispiel nicht zum nordamerikanischen Leben, wo alles Wertvolle schon vorformatiert erscheint, um sich in ein klar erkennbares numerisches und topologisches Grundmuster zu fügen. In den Vereinigten Staaten lassen sich die Spielphasen fast aller wichtigen Sportarten in kompakte und einteilbare entscheidende Spielzüge unterteilen, mit einer klaren und unverkennbaren Opposition zwischen Angriff und Verteidigung. Die vorherrschende Mentalität gibt sich nicht mit einem null zu null zufrieden. Der Ball des American Football ist ein Wurfgeschoß, ein der Manipulation und zielgerichteter Auseinandersetzung unterworfenes Gerät, jedenfalls nicht dieses fast lebendige und animalische Wesen (wie es João Cabral in einem Gedicht formuliert), an das der runde Fußball erinnert, wenn er den Füßen die „Geschicklichkeit einer Hand“ abverlangt. Im Sinne dessen, was Lorenzo Mammì über Jazz und Bossa Nova sagte, drückt der American Football einen Machtwillen aus, während der brasilianische Fußball ein Glücksversprechen darstellt.

Die weltweit meistverbreitete Sportart ist zugleich das Spiel, das die Hegemonie der nordamerikanischen Kultur im Sinne eines Screenings und weltweiten Modells für die Massenmedien durchbricht: Dem ESPN (Entertainment and Sports Programming Network) ist es nicht gelungen, den Basketball als Weltsportart zu etablieren, und Nike sah sich gezwungen, seine Produktpalette um eine Sportart zu erweitern, die ihr wesensfremd ist. Der Fußball paßt genausowenig zu den Vereinigten Staaten wie die in den Vereinigten Staaten beliebtesten Sportarten zum Rest der Welt passen. Genau hier, durch diese merkwürdige Lücke, bahnt sich das Heilgift, das wir Brasilien nennen, mit erstaunlicher Beharrlichkeit seinen Weg.

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