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Cover Lettre International 83, Dieter Appelt
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LI 83, Winter 2008

Die Kulissen fallen

Die Vereinigten Staaten von Amerika. Begegnungen mit der Wirklichkeit

(...) Zwei Autostunden nordöstlich von Los Angeles liegt der Irak. Zumindest etwas, das den Irak verkörpern soll. Hier gibt es irakische Moscheen, irakische Dörfer, irakische Marktstände, irakische Palmen, irakische Wäscheleinen, irakische Flaggen und ungefähr 400 irakische Privatpersonen in unterschiedlichen Positionen und Schattierungen. Einige sind Schiiten, andere Sunniten, einige sind freundlich gesinnt, andere Terroristen. In unregelmäßigen Abständen kommt es zu Bombenattentaten und Angriffen von Heckenschützen, wobei sich die Plätze und Gassen mit schwerbewaffneten amerikanischen Soldaten füllen, die rasch Positionen an den Straßenecken beziehen und vorsichtig an den Hausfassaden vorrücken.

Fort Irwin ist ein Truppenübungsplatz von der Größe der Insel Gotland (dreißig Quadratmeilen) und vermutlich die größte und teuerste Filmkulisse der Welt. An nichts wurde gespart, damit amerikanische Soldaten sich im Irak zu Hause fühlen, ohne im Irak gewesen zu sein. Die Moscheen mögen aus Holz, die Früchte der Marktstände aus Plastik und die Palmen in China hergestellt sein – die irakischen Privatpersonen sind echte irakische Einwanderer, die überall in den USA angeworben wurden und sich nach einer Sicherheitsüberprüfung als zuverlässig genug erwiesen haben, gegen Bezahlung bei den Kampfübungen der amerikanischen Armee in Fort Irwin als Ortsbevölkerung zu agieren. Ihre Aufgabe ist, wie irakische Dorfbewohner auszusehen, sich wie irakische Dorfbewohner zu benehmen, auf Arabisch zu antworten, wenn die Soldaten sie auf Englisch ansprechen, und so zu einem realistischen Eindruck beizutragen.

Mehr als alles andere trägt zu einem Gefühl des Realismus jedoch ein jäher, heftiger Sandsturm bei, der die Windschutzscheibe des Autos zerstört und unsere Eskorte um ein Haar auf eine Irrfahrt durch die Wüste schickt.

„Der heftigste Sandsturm, an den ich mich erinnern kann“, sagt unser Begleiter, der John Wagstaff heißt und schon so lange Informationschef in Fort Irwin ist, daß er sich noch daran erinnern kann, wie die amerikanischen Soldaten in sowjetischen Uniformen übten und in sowjetischen Panzern herumfuhren.

Heute geht es auf absehbare Zeit um den Irak oder etwas, das dem Irak relativ nahekommt. Nachdem der Sandsturm sich gelegt hat, fahren wir an einer Stadt in der Wüste vorbei, genauer: an einer Baustelle, aus der einmal eine Stadt in der Wüste werden soll, Viertel um Viertel halbfertiger dreistöckiger Steinhäuser mit leer gähnenden Fenstern. John Wagstaff erklärt, daß hier für 57 Millionen Dollar das Falludscha von Fort Irwin errichtet wird, das größte Manövergelände für den Krieg gegen die Stadtguerilla.

„Die Steine kommen aus dem Irak“, fügt er einen Augenblick später hinzu, als wolle er die Kosten erklären. Die Gesamtkosten der riesigen Kulissenbauten in der Wüste behauptet er nicht zu kennen, aber nichts deutet darauf hin, daß Kosten in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Im Gegenteil, Fort Irwin wurde kürzlich um 133000 Hektar erweitert, um Raum für noch größere Übungen über noch größere Entfernungen in noch realistischerer Umgebung zu schaffen. Was wiederum eine kleine, unvorhergesehene Ausgabe von 75 Millionen Dollar nach sich zog, zwecks Umsiedlung von 800 von der Ausrottung bedrohten kalifornischen Wüstenschildkröten, zuzüglich der Kosten für eine jahrelange Begutachtung, ob die Tiere die Umsiedlungsaktion auch gut überstanden haben.

Eine stellenweise rührende Geschichte, die alle Illusionen zunichte macht, man befinde sich in einem wirklichen Krieg in einem wirklichen Irak.

Nein, wir befinden uns in Amerika und auf militärischem Gebiet, wobei es sich unverkennbar schon deshalb um amerikanisches Gebiet handelt, weil riesige Flächen in Amerika militärischer Verwendung vorbehalten sind, genauer gesagt: 700 Quadratmeilen, was der zwanzigfachen Landmasse der schwedischen Insel Gotland oder ungefähr einem Sechstel der Gesamtfläche Schwedens entspricht. In der Wüste südwestlich von Fort Irwin, auf einem Gebiet von der halben Größe Gotlands, liegt die berühmte Edwards Air Force Base, wo die Raumfähren landen, wenn in Florida schlechtes Wetter ist. Im Nordwesten, auf einer Fläche der anderthalbfachen Größe Gotlands, liegt das China Lake Naval Air Weapons Testing Center, im Osten beziehungsweise im Süden liegen das Marine Corps Air Ground Combat Center (knapp so groß wie Gotland) und die Marine Corps Logistics Base. Zusammen bilden sie einen fast geschlossenen Halbkreis militärischer Gebiete östlich von Los Angeles. Rechnet man die große Basis des amerikanischen Marinekorps Camp Pendleton hinzu, die ungefähr dreißig Kilometer des schönen Küstenstreifens nördlich von San Diego beansprucht, befinden wir uns hier in der nach Fläche am stärksten militarisierten bevölkerten Region Amerikas und vielleicht der Welt.

Womöglich eine Art von Barriere gegen die brutale private Ausbeutung von Land und Bodenschätzen in Südkalifornien und paradoxerweise vielleicht die Rettung für noch andere Tierarten als die Wüstenschildkröte in Fort Irwin – etwas erstaunlich dennoch, da die militärischen Gebiete nicht nur selbstverständlich erhalten bleiben, sondern sich weiter ausdehnen.

Als der Kalte Krieg zu Beginn der neunziger Jahre endete, Amerika die einzige Supermacht der Welt war und sich am Horizont kein einziger Feind ausmachen ließ, hofften viele, die militärischen Ausgaben und Aufgaben der USA würden sich ebenso wie die Nutzung von Land für militärische Zwecke vermindern.

Es kam anders. Seit 2001 sind die militärischen Ausgaben auf den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gestiegen, und bislang gibt es keinerlei Anzeichen, daß Amerika den Rüstungstakt verlangsamt, von Abrüstung ganz zu schweigen.

(...)

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