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Cover Lettre International 64, Lila Polenaki
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LI 64, Frühjahr 2004

Zeit und Geduld

Schwelgerei eines Geniessers über das Aristokratische im Wein

Früher war nicht alles besser. Schon gar nicht der Wein. Große Weine sind Ausnahmen – heute wie gestern. Was wir "einen guten Wein" nennen, das gab es früher nicht. Die Weine waren entweder ausbündig oder sauer.

Für die Armen – und dies waren nach unseren heutigen Maßstäben fast alle – gab es billigen Sauerwein in Fülle. Oftmals war dies nicht mehr als nur mit Wasser verdünnter Essig. Manchmal gab es jahrelang überhaupt keinen Wein, und manchmal gab es davon so viel, daß man den Mörtel damit anmischte.

Man nannte dieses massenhaft hergestellte Volksgetränk Piquette. Das heißt soviel wie "kleiner, stechender Säuerling". Er wurde durch nochmaliges Auspressen des Tresters gekeltert. Die erste Pressung ergab den Muttertropfen. Der aber war für die Tafel der Reichen bestimmt.

Nur wenige Kreszenzen der alten Weinwelt würden auch heute noch verwöhnte Gaumen entzükken können. Sie befanden sich aber für die meisten Zeitgenossen außer Reichweite. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft und bis zur Säkularisation waren sie den weltlichen und geistlichen Herren vorbehalten. Allenfalls noch Vasallen und Landsknechte kamen in den privilegierten Genuß. In den Hierarchien der höfischen Haushaltungen war genau geregelt, wem welche Weinqualität in welchem täglichen Quantum als Deputat zustand.

Die Herrschaft ließ, wenn sie den Weingarten nicht in eigener Regie bewirtschaftete, den Zehnten beziehungsweise Neunten vom Vorlauf durch ihre Mostkontrolleure vor Ort abziehen. Reinwein nannte man das. Im ungarischen Tokaj gab es zwei eigene Berufe dafür, den Tresterbeschauer und den Bottichstecher. Und da waren noch andere, der Weinrichter, der Faßmesser, der Ohmer, der Fuhrmann. Sie alle mußten mit Wein entlohnt werden. Dem Weinhauer selbst blieb da oft genug nur der Most der zweiten und dritten Pressung oder der Aufgußwein.

Doch dies kümmerte niemand. Bis zur dämmernden Neuzeit trank man Wein kaum aus Genuß, sondern als profanes Alltagsgetränk anstelle von Wasser oder vielfach gemischt für die Gesundheit.

Es gab Ausnahmen. Die Patrizier der freien Reichs- und der reichen Hansestädte. Die Kaufmannsfamilien in den Niederlanden. Und die Engländer. Diese besaßen schon zu Shakespeares Zeiten so etwas wie eine bürgerliche Weinszene. Ihr vortrinkender Zeitgeist hieß John Falstaff.

Da haben wir es heute besser. Oder doch nicht? Zweifellos werden heute mehr gute Weine produziert als früher. Aber auch mehr große Weine? Ich möchte es nicht beschwören. Das schier unendliche Meer der ungenießbaren Schlechtweine ist bis auf einige entlegene Pfützen trockengelegt. Ist aber das, was heute alltäglich konsumiert wird, wirklich besser als die Säuerlinge der Altvorderen?

Technisch sauberer, reiner, weniger gesundheitsschädlich. Ja. So sind unsere heutigen Weine. Aber meist sind sie auch erschreckend banal. Wollen wir es beklagen? Dann müßten wir uns an die eigene Brust schlagen; denn man ist auch, was man trinkt.

Niemals zuvor ist in deutscher Sprache so viel über Wein geschrieben worden wie heutzutage. Keine Bordzeitschrift, kein buntes Konsumblättchen, keine Discounter-Werbung mehr ohne Weinkolumne und Geheimtips für Genießer. Auch solche Zeilen haben ihre Autoren: Freaks verströmen ihr Herzblut notfalls zum Nulltarif, Händler empfehlen, was weg muß, Sommeliers schwärmen, um bessere Konditionen zu bekommen.

(…)

Welches ist der aristokratischste unter allen Weinen, die ich je gekostet habe? Von den heutigen genügt kaum einer den Kriterien. Der 2000er Château Ausone gehört sicher in die engere Wahl. Er ist ein Monument der Unvergänglichkeit. Der "unendlich" von F. X. Pichler – ein Wein so weit wie das Firmament. Die 1983er Tokajer Essenz von Château Pajoz – süße Träne einer verlorenen Zeit. Der 1979er Champagne Clos du Mesnil – ein zeitlos funkelndes Juwel. Vom Rhein? Die Trockenbeerenauslesen des Jahrgangs 1992 von Robert Weil und Gunderloch – wahrhafte Jahrhundertweine. Natürlich denke ich dann an 1947 Cheval blanc, 1945 Mouton, diverse Jahrgänge von La Tâche und Richbourg, 1937 La Romanée Conti, 1921 Yquem, 1900 Margaux, die legendären twins 1864/65 von Lafite, die denkwürdigen Kometenweine des Jahrgangs 1811 Forster Ungeheuer und Lafite und so weiter und so weiter. Merkwürdig. Je weiter die Gedanken zurückschweifen, um so aristokratischer die Weine.

Die meisten heutigen Weine sind Konsumware. Im günstigsten Fall sind sie glatt und reintönig, oft genug aber nur bieder und bräsig, allenfalls rührselig oder schwatzhaft. Sie dümpeln behäbig auf der Zunge wie Elbewer bei Flaute. Selbst wenn sie marktschreierisch, plakativ daherkommen, lauthals, pralle Pin-ups, fette Sumoringer, geputzte Affen – sie lassen den wahren Kenner gleichgültig. Ihre Konsumenten verwechseln Make-up mit Schönheit und Masse mit Kraft. Diese Weine sind linear. Sie sind nicht in der Zeit verankert: Momentweine, keine Monumente. Es fehlt ihnen die Tiefe und damit die Empfindung. Wenn sie explodieren, tun sie es mit der Wucht einer Knallerbse. Sie nur zu nennen wäre unverzeihlich, geschweige denn, sie zu preisen. Ihnen fehlen Anmut, Poesie, das Heroische, das Einsame, einfach alles.

"Denn ein Wein, der dieses Namens würdig ist", so Michel Onfray in seiner Theorie des Sauternes, "ist die Quintessenz triumphierender Freuden, die allein die Existenz erträglich machen. Bevor er zu Trunkenheit und Rausch führt, verursacht er einen Taumel, der das Zeichen einer gelungenen Gemeinschaft eines Ich mit sich selbst und mit den anderen ist … Er ist das Gefäß der verherrlichten, transzendierten, sublimierten Zeit. Was vom Zeitpunkt der Abfüllung, der den Jahrgang bezeichnet, bis zum verschwenderischen Moment des Entkorkens mit jener Flüssigkeit geschieht, ist eine ständige Assimilierung, Alchemie und Verwandlung."

Genau dies verleiht den wirklich großen Weinen ihre erratische Würde, schwer zu fassen, aber unausweichlich. Es ist ihnen etwas nicht Greifbares, etwas Zauberhaftes eigen, das sich auf den überträgt, der sie zu genießen versteht. Ansonsten gelten für diese Aristokraten, ihr individuelles Wesen, ihren Geschmack keine Normen. Sie können elfenhaft über die Zunge tanzen, feinziseliert und von seidener Finesse sein, stolz und kampfbereit, schwelgerisch den Gaumen tapezieren, ihn mit brachialer Rauheit aufreißen oder mit der geschliffenen Eleganz eines Rapiers treffen.

Gemeinsam ist diesen Weinen eines: Sie brauchen Zeit, um sich zu entfalten. Und wir brauchen Geduld, wenn wir ihnen nahe kommen wollen. Große Weine sind wie die ferne so Geliebte. Orpheus müßte man sein, wollte man sie besingen. Wenn die Zeit, wie Platon meinte, "ein bewegtes Bild der Unvergänglichkeit" ist, dann ist Wein eine flüssige Form von Zeit.

(...)

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