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Cover Lettre International 67, Arnulf Rainer
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Inhaltsverzeichnis

LI 67, Winter 2004

Die Mysterien von Paris

Französischer Republikanismus oder die Liebe zum Widerstand

In Paris befinden sich an den Türen von Appartmenthäusern nicht die Namen der Bewohner, sondern mysteriöse Tastaturen mit Buchstaben und Zahlen. Um ein Appartementhaus betreten zu können, muß man, besonders an arbeitsfreien Tagen, einen Code eintippen. Wird man von jemanden in dessen Wohnung eingeladen, so muß er einem den Geheimcode geben, mit dem die Haustüre geöffnet wird, denn erst hinter dieser findet man die Türsprechanlage mit den Namen der Bewohner und kann sich von der Person, die einen erwartet, die zweite Türe öffnen lassen.

Freilich kommt es bei solchen Einladungen oft genug vor, daß vergessen wird, dem Eingeladenen diesen berüchtigten Code mitzuteilen und daß man selbst, als Fremder, es verabsäumt, danach zu fragen. Angesichts der Lakonik der Tasten ist man ratlos und fühlt sich wie ein Besatzerheer am Fuße der hohen, unüberwindbaren Mauer einer mittelalterlichen Stadt. Trägt man kein Mobiltelefon mit sich oder ist dessen Akku leer oder erinnert man sich nicht an die Telefonnummer, dann ist man verloren … Man kann nur noch auf ein öffentliches Telefon hoffen – diese sind jedoch meist kaputt und erfordern überdies den Gebrauch einer Telefonkarte (die öffentlichen Telefone von Paris lehnen Münzen und Banknoten rigoros ab) –, um seinen Gastgeber um Hilfe zu bitten.

Frage ich Pariser, weshalb sie sich eines so sonderbares Systems bedienen, dann antwortet man mir, daß dies die beste Art sei, sich vor Störungen zu schützen. Doch der wahre Grund dieser Neigung, jene, die den Code nicht kennen, ihrem Schicksal zu überlassen, mag darin liegen, daß die französische Kultur im Ganzen eine durch und durch kodifizierte Kultur ist. (Ich spreche hier von der französischen Kultur, um mich auf die Pariser Kultur zu beziehen, denn diese ist im Grunde die einzige französische Kultur, welche wir im Ausland kennen.)

Nicht zufällig herrschte im Frankreich der sechziger Jahre der Strukturalismus vor, im dem das menschliche Leben als etwas galt, was zur Gänze aus einem Garn sprachlicher Codes gewebt war. Wer in Paris leben will, ohne die mots-clefs der parisienneté zu kennen, dem werden die maßgeblichen Kreise und Zirkel – und vielleicht sogar die Appartmenthäuser – verschlossen bleiben.

Das französische Wort cour bezeichnet sowohl den Hof (des Monarchen), als auch den Hof eines Hauses. Vielleicht verbirgt sich in der Leidenschaft für Zugangscodes ein verborgenes geistiges Erbe der Monarchie: Die Pariser denken insgeheim, daß der Hof ihres Appartementhauses ebenso exklusiv, begehrenswert und erlesen ist wie der Hof von Versailles.

Natürlich ist diese Verteidigung durch Codes ein Korrelat eines sehr französischen Mißtrauens. Da man einander nicht traut, stellt der Pariser zwischen sich und den anderen eine präventive Distanz her, welche etwa bei Italienern Erstaunen hervorruft. Denn für uns Italiener reicht schon eine oberflächliche Bekanntschaft, um vom Sie zum du als Zeichen des Vertrauens überzugehen, während in Paris sich auch Menschen, die seit Jahren zusammen oder befreundet sind, mit vous ansprechen: Die Distanz wird gewahrt. Eine vornehme Distanz hindert die Pariser von Geburt an daran, sich zu öffnen und möglicherweise auch zuzulassen, daß die anderen sich öffnen. Wenn man zum Beispiel bei jemandem zu Hause nach der Toilette fragt, um einem unaufschiebbaren Bedürfnis nachzugeben, so verursacht dies ein deutlich wahrnehmbares peinliches Gefühl, so als wäre die Toilette ein abgetrennter Teil der Wohnung, den man gar nicht aufsuchen kann.

Die fundamentalen Codes sind bei alledem die französische Sprache und Schrift. Pariser zu sein – und das schließt ein, Franzose zu sein, geht aber darüber hinaus – ist keine ethnische oder rassische oder religiöse Zugehörigkeit. Es ist nicht von Belang, ob man schwarze Haut hat oder einen chinesischen Akzent – immerhin stammt heute jeder sechste Franzose von einer Familie ab, die nach 1900 nach Frankreich kam. Pariser ist man, wenn man sich der exception parisienne zugehörig fühlt, wenn man dieselben kulturellen Reflexe wie jene aufweist, die in ihrer Jugend Molière, Balzac, Flaubert und Vian lasen und die Chansons von Brel und Brassens hörten. Man gehört dazu, wenn man sattelfest im Gebrauch des Konjunktivs ist – der richtige Gebrauch des Konjunktiv Imperfekt ist die Nagelprobe, die darüber Aufschluß gibt, ob jemand ein gebildeter Mensch ist oder eine Niete. Die Zeitungen der ganzen Welt meinten, daß Tony Blair den Franzosen deswegen so sympathisch ist, weil er bei seinem Frankreichbesuch 1998 vor der Nationalversammlung in fließendem und lockerem Französisch sprach. Der Pariser ist somit nicht rassistisch, nationalistisch oder ethnozentrisch: Er ist glottozentrisch, im Mittelpunkt steht das bon français. Denn wer gut französisch spricht, der kann auch französisch denken.

Arroganz?
Vor kurzem (22. Oktober 2004) las ich in Le Monde, daß die französischen Studenten europaweit die schlechtesten Englischkenntnisse haben; seit 1996 sinkt das Englisch-Niveau der jungen Franzosen sogar. Menschen, die Studenten aus allen Teilen der Welt Englisch lehren, haben mir versichert, daß die Franzosen die schwierigsten Schüler seien: Sie seien so mit ihrer eigenen Sprache erfüllt, daß sich starke unbewußte, also neurotische, Widerstände gegen das Sprechen einer anderen Sprache erkennen ließen. Auf internationalen Kongressen der diversen wissenschaftlichen Disziplinen, wo natürlich nur englisch gesprochen wird, sind die Frankophonen die einzigen, die französischsprachige Sitzungen fordern. Werden diese dann zugelassen, sind sie die einzigen, die daran teilnehmen.

Es ist wahr, daß viele zeitgenössische Pariser Denker trotz ihrer kodifizierten Schreibweise, bei der nicht Eingeweihte und Fremde leicht den Mut verlieren, auf der ganzen Welt ernst genommen werden, und zwar besonders auf amerikanischen Universitäten. Die berühmte French theory hat in den USA zahlreiche Anhänger und Nachahmer gefunden. Doch selbst jene, die mit der French theory liebäugeln, fragen sich, „warum die Franzosen so dandyhaft schreiben“ – „Their style is weird.“ Daher kommen viele zu dem etwas unausgegorenen Schluß, daß all diese berühmten Pariser Intellektuellen im Grunde nur Angeber oder Scharlatane sind.

Von allen Englischsprechenden der Welt hört man immer dasselbe Klischee: „Die Franzosen sind chauvinistisch und arrogant.“ Wie jeder Gemeinplatz, bei dem alles in einen Topf geworfen wird, irritiert mich diese Aussage. Ich finde meine vielen französischen Freunde nicht besonders überheblich.

Doch dann kommen mir Zweifel: Und wenn diese Freunde, Intellektuelle, mir gegenüber nur deswegen nicht arrogant wären, weil sie mich in ihren Stamm aufgenommen haben? Schließlich spreche ich ihre Sprache gut, habe in Paris studiert und halte mich über die Entwicklungen in der französischen Kultur und Politik auf dem laufenden. Man sieht in mir also keinen sich in der Fremde befindlichen Trampel aus Burundi oder Kalifornien, keinen Outsider, der in die Geheimnisse der Pariser Kultur nicht eingeweiht wäre. Ich kenne den Code, daher wird mir Zutritt zum Hof gewährt…

Aber kommt es bloß darauf an, in schöner Sprache reden oder schreiben zu können, oder nicht auch darauf, einen Code des Denkens zu teilen? In Paris betrifft der Code auch den Inhalt. Dies kommt in einem Schlüsselwort zum Ausdruck, einem mot de passe, ohne das man in der culture parisienne niemals akzeptiert wird. Dieses Schlüsselwort des Codes lautet: résister, Widerstand leisten.

Résistance!
Jeder Franzose jenseits der vierzig liebt die résistance, den Widerstand, – das Wort ebenso wie den dahinterstehenden Begriff.

Als ich 1994 mit Jean-François Lyotard ein einstündiges Gespräch für das italienische Fernsehen führte, schlug er dafür, ohne einen Moment zu zögern, den Titel Résistances vor.Es war sein Testament; kurze Zeit später sollte er sterben.

Jacques Derrida hat seinerseits ein Buch mit dem Titel Résistances veröffentlicht. Darin enthalten sind drei Aufsätze über die Psychoanalyse, die mit einem sehr französischen Geständnis beginnen: „Seit jeher liebe ich dieses Wort, Widerstand.“ Und er fragt sich, ohne eine klare Antwort zu wagen: „Warum habe ich stets vom Widerstand geträumt?“
Freilich hat das Wort Widerstand im Stamm der Psychoanalytiker eine eher negative Konnotation: Das narzißtische Ich leistet Widerstand gegen die unbewußten Wahrheiten, die in der Analyse zur Oberfläche gelangen. Die beschränkte Vernunft (ragione) leistet Widerstand gegen die unerwünschten Gründe (ragioni) des Herzens. Doch die französische Doppelliebe für Freud und für den maquis gegen die Okkupation hat – nicht nur bei Lyotard und Derrida – eine wundersame Gemeinschaft bewirkt: Der freudsche Widerstand wurde wie der Widerstand gegen den Faschismus zu einer guten Sache, ja sogar zu einer großen Pflicht der Intellektuellen am Ende des Millenniums. In einem Lied von France Gall, das in Frankreich jeder kennt, heißt es: „Résistes! Montres que tu existes / Refuses ce monde égoiste …“

Eine französische Rockband, deren Plakate vor Jahren an den Mauern von Paris zu sehen waren, hieß Résistances. Bedeutende französische Zeitschriften stellen ganze Ausgaben unter das Thema „résister“.Auch in internationalen Debatten und Foren kann man sich darauf verlassen, daß früher oder später der französische Intellektuelle – und damit auch der in dessen Strahlungsbereich befindliche frankophone Intellektuelle – etwas wie „Il faut résister…“ sagen wird. Widerstand leisten – aber wogegen? Wer sind die nationalsozialistischen Besatzer von heute?

Für einen französischen Intellektuellen gilt es, gegen verschiedene Dinge Widerstand zu leisten: gegen die mondialisation (ein französisches Wort, mit dem gegen das englische globalization Widerstand geleistet wird), gegen die Übermacht der Medien und Hollywoods, gegen den libérisme, die angloamerikanische Version des Liberalismus, gegen die Massenkultur, gegen Bush und Blair und gegen den „dritten Weg“, gegen die kognitive Wissenschaft und gegen den Szientismus und so weiter. Kurzum, Widerstand muß gegen das Voranschreiten der Amerikanisierung in all ihren Formen geleistet werden, sei sie nun anspruchsvoll (moderne Wissenschaft, Chomsky, Microsoft) oder primitiv (Walt Disney, Harry Potter, McDonalds, Disneyland). Paris bietet sich als globale Festung in diesem verbissenen, verzweifelten Widerstandskampf gegen „McWorld“ (McLuhan, McDonald, McIntosh) an.

Wenn man die globalen Verhältnisse stark vereinfachte, dann wäre der Westen in zwei Hälften gespalten. Die eine Seite wäre der „David“ Frankreich, der bestrebt ist, die UNO zur Schöpferin der neuen Weltordnung zu machen, und der den Dekonstruktivismus, die Psychoanalyse, die elitäre Kunst, leere Raffinesse, den historischen Relativismus, die Kritik der Moderne und das Primat der Philosophie pflegt. Auf der anderen Seite der „Goliath“ USA, welcher der Welt eine neue Ordnung ebenso aufzwingen will wie die philosophy of mind und die analytic philosophy, die Massenkunst, das allgemein Gefällige, den wissenschaftlichen und demokratischen Universalismus, die Exaltierung der Moderne und das Primat von Wissenschaft und Technik. Goliath herrscht über die Kontinente, David – „die französische Partei“ – leistet Widerstand.
 
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