LI 84, Frühjahr 2009
Das Ende Russlands
Vom Rad der Geschichte - Eine Nation verspielt ihre letzte ChanceElementardaten
Genre: Essay, Landesporträt
Übersetzung: Aus dem Russischen von Olaf Kühl
Textauszug
In den letzten Monaten wurden  wir Zeugen einer Reihe von Aktionen der russischen Regierung, die auf  den ersten Blick paradox erscheinen. Die wichtigsten waren:
– Erstmals seit dem Abzug der  Sowjetarmee aus Afghanistan haben russische Streitkräfte einen „realen“  (nicht „Kalten“) Krieg außerhalb Rußlands (in Georgien) begonnen und zu  Ende geführt;
– zum ersten Mal  seit dem Zusammenbruch der UdSSR sind strategische Bomber und  Kriegsschiffe der russischen Marine nach Lateinamerika entsandt worden;
– die Rückkehr zur Rhetorik des  „Kalten Krieges“ hat einen Punkt erreicht, an dem sich der russische  Außenminister im Gespräch mit seinem britischen Kollegen zu obszönen  Flüchen 
versteigt;
– in Sewastopol stationierte russische  Kriegsschiffe kämpften im Schwarzen Meer gegen Georgien, obwohl der  ukrainische Präsident ihren Einsatz ohne vorherige Information der  Ukraine untersagt hatte;
– Premierminister Putin spielte die  Karte der atomaren Erpressung gegen die Tschechische Republik und Polen  aus, in der für ihn typischen, geheimdienstlich vieldeutigen und  verrätselten Ausdrucksweise;
– vor dem Hintergrund der schreienden  und weiter zunehmenden Diskrepanzen bei der Einkommensverteilung in  Rußland wurde der Militärhaushalt um fast dreißig Prozent gesteigert;
– der russische Präsident begrüßte  die Wahl des neuen US-Präsidenten mit dem Versprechen, zur Abschreckung  der europäischen Verbündeten Amerikas Raketenbasen im Königsberger  Gebiet zu stationieren.
Diese Dinge wirken paradox.  Schließlich leben wir im Nuklearzeitalter. Dennoch können all diese  Ereignisse, die so gar nicht ins Bild der Gegenwart passen wollen, auf  unparadoxe Weise erklärt werden. Die Erklärung wird dann aber noch  finsterer und alarmierender ausfallen als die „scheinbaren Paradoxa“ –  die in Nebel gehüllte Realität. Betrachten wir offenen Auges,  realistisch, rational und im historischen Kontext, was vor sich geht,  dann bekommen wir das Gefühl, verrückt zu sein – oder jedenfalls auf dem  besten Wege dahin. Sind wir aber dank des Vertrauens in unsere mentale  Gesundheit fähig, diese so schrecklich und bizarr wirkenden Gedanken zu  verwerfen, dann empfinden wir etwas nicht minder Furchtbares – nämlich  eine große Leere ringsum.
Keine absolute Leere, natürlich. Hie  und da, selten genug, stößt man noch auf Menschen, die die Dinge ähnlich  sehen wie wir. Auf mich wirken diese Menschen wie Leuchtkäfer. Ich  versuche, mich in der Finsternis von ihnen leiten zu lassen.
Aber sogar dann bleibt das Gefühl  einer Leere. Denn dieses Gefühl hat mehr als einen Grund. Das Problem  ist nicht allein die Regierung. Wäre das der Fall, dann könnte die  Dunkelheit wenigstens teilweise durch ein Verstehen zerstreut werden –  selbst die grausamsten Maßnahmen der Behörden lassen sich zumindest  verstehen. Aber selbst wenn man das getan hat, läßt sich das Gefühl der  Dunkelheit nicht zerstreuen, weil an nicht weiß, was man mit diesem  Verstehen anfangen soll.
Denkt man die  Dinge bis zu Ende, deutet man sie konsequent, dann läßt sich das  Verhalten der Regierung nur als Entfremdung vom Volk interpretieren, als  Maßnahmen einer Okkupationsregierung, einer „Goldenen Horde“, die  sowohl illegitim als auch kriminell ist.
Selbst wenn man ganz sicher ist,  selbst wenn die eigenen Ideen wohlbegründet und von den Tatsachen  gestützt sind – wohin wendet man sich mit diesem Verstehen? Natürlich,  sollte man meinen, nicht an die Regierung, sondern an das Volk.
Aber wendet man sich an das Volk, wird  die Leere nur noch schlimmer. Denn auch sie, jene „Massen“, gegen die  die grausamen Aktionen der Behörden gerichtet sind, atmen Leere. Diese  „Massen“ lassen sich die Aktionen der Behörden nicht nur schweigend  gefallen. Sie haben begonnen, sie enthusiastisch zu unterstützen, so wie  in den dreißiger Jahren. Es macht die Sache nur schlimmer, daß es  solche enthusiastischen Reaktionen der manipulierten und mißbrauchten  Massen auch früher schon gegeben hat: vor und unmittelbar nach dem  Ersten Weltkrieg. Damals standen sich das Volk und die Bolschewiken so  nahe, daß bis heute nicht klar ist, wer wen unterstützt, wer wen geführt  hat. Wir wissen nur ungefähr, welches Ergebnis dieses Zusammengehen,  das auf Dauer todbringend für beide Seiten werden sollte, gezeitigt hat –  das Jahr 1991.
Gleichzeitig  wissen wir, daß das russische Volk den Staat nie als „Freund“ betrachtet  hat und auf staatlichen Zwang stets mit Tricks, Listen und dem Umgehen  der Vorschriften reagierte. Äußerlich gefügig, spielte man  Unterwürfigkeit vor und ballte doch in der Tasche die Faust. Diese  äußerlichen Anzeichen von Gefügigkeit und Gehorsam wurden (und werden)  als Neigung zu großer Duldsamkeit interpretiert, und solches Verhalten  kann, wenn man so will, als Volkes Unterstützung für die Regierung  gedeutet werden. Gegenwärtig scheinen Putin und sein Präsident  allgemeine Unterstützung zu genießen. Die in Rußland bis zum Überdruß  wiederholte Losung lautet: „Volk und Regierung sind eins.“ Das bedeutet  nur, daß beide noch keine Regierung und kein Volk im modernen,  rationalen Sinne des Begriffes sind. Nicht nur die Regierung ist in  dieser Hinsicht fragwürdig, auch das Volk. Beide haben noch nicht  begonnen, eine aktive Rolle in ihrer eigenen Geschichte zu spielen. Das  Volk ist weiter nur Masse, ist Menschenmaterial. Erst in den letzten 18  bis zwanzig Jahren hat die amorphe, atomisierte sowjetrussische Masse  begonnen, sich zu strukturieren. Doch dabei entstand leider keine  Zivilgesellschaft, sondern eher so etwas wie eine Reihe krimineller  Clans. Man mag dieses Konzept anstößig finden und mir vorwerfen: Mit  solchen Vorstellungen vom Volk wirst du nie einen Zugang zu ihm finden.  Ich verstehe das. Darum sage ich ja, daß wir auch hier vor einer Leere  stehen.
Viele Jahrhunderte lang hat unser  Volk Leiden ertragen, die zu ertragen man, wie Karamsin sagte, einen „fiesen  Charakter“ haben muß.  Daher die Unehrlichkeit, die Betrügereien und die Doppelmoral. Doch Ende  des 18. Jahrhunderts  konnte Karamsin nicht wissen, daß die größten Leiden und moralisch  verderblichsten Folgen noch bevorstanden.
Von Zeit zu Zeit  begehren wir auf wider die unerträglichen Leiden und wider die  Regierung. Einmal im Jahrhundert, mit Rasin, Pugatschow oder Lenin,  feierten wir unsere „wilde Freiheit“. Dann steckten wir die geballte  Faust in die Tasche zurück und fanden uns wieder in unserer  gewöhnlichen, tierischen Existenz.
Manch einer  betrachtete dieses Aufbegehren, im Spaß oder zynisch, als ein Erwachen.  Doch unser Volk blieb und bleibt auch in seinem Leiden, seinen  unüberlegten Aufständen und seiner wilden Wut nichts als eine Masse.  Eine Menge, die Sympathie und stille Trauer verdient hat, eine Menge,  die manchmal erschreckend und abstoßend wirkt. Deshalb haben nur Leute  wie Lenin und Stalin, später Jelzin und Putin es vermocht, dieses Volk  aus seinem Dauerzustand von Bewußtlosigkeit und latenter  Rebellionsbereitschaft zu reißen und anzusprechen. Wer weiß, vielleicht  wird schon in naher Zukunft jemand wie Schirinowski oder Limonow dazu in  der Lage sein?
(...)
 
   
   
   
  