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Cover Lettre International, Adriana Molder
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LI 104, Frühjahr 2014

Ein vorbildlicher Agent

Zur Lebensgeschichte Ramón Mercaders, der Leo Trotzki ermordete

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An einem eiskalten Februartag des Jahres 1913 – jenes Jahres, in dem Stalin zum ersten Mal mit Trotzki in Wien zusammentrifft – wird Ramón Mercader del Río in Barcelona geboren. Jener ganz besondere Spezialagent, der diesen Führer der roten Revolution ermorden wird, womit der Katalane einem Befehl des sowjetischen Gewaltherrschers gehorcht. Mercader: die geheimnisvollste Persönlichkeit der neueren Geschichte, eine weltweit für Aufregung sorgende Legende, über die berühmte Kunst- und Kulturschaffende spekulieren (Joseph Losey, Jorge Semprún und viele andere), ohne daß man jedoch seine Lebenswahrheit veranschaulichen konnte. Sicher handelt es sich um einen ganz besonderen Mörder. Einen Killer? Selbstverständlich nicht. Einen durch und durch überzeugten Stalinisten? Das ja. Das Produkt einer Zeit, in der das Töten eine alltägliche Praxis von Helden, Idealisten und Kriegsversessenen war. Ein vorbildlicher Spion, wie er dem damals für Geheimagenten gültigen Kanon entsprach. Republikaner, intelligent, kultiviert, Marxist, Bürger, wohlerzogen, furchtlos. Anders als ein anderer berühmter, von Ian Fleming ersonnener Agent (alias 007), mit dem der Katalane mehr als einen Wesenszug teilt, wird er im Auftrag des Moskauer Geheimdienstes arbeiten und der geschätzteste Agent der Sowjetunion werden.

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Welche Rolle spielt Mercader, der Sohn eines Textilfabrikanten aus Barcelona, in diesem düsteren Umfeld? Niemand weiß es oder will es wissen. Sein Leben, sein Auftreten, sein Bildungsweg, das Spionagenetz, von dem sein Schweigen und seine große Persönlichkeit (immer unter dem Stiefel des großen Henkers Stalin) abhängen, tragen dazu bei, daß die phantastische Geschichte, die sich um den Mörder eines einzigen Menschen rankt, schwerer wiegt als seine wirkliche Biographie, sogar die sowjetische Spionagemaschinerie überrascht und schließlich zu einem Mythos wird. Das heißt: zu einem verhängnisvollen Hirngespinst.

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Der Auftrag

Annähernd zu der Zeit, als Ramón Mercader zum Kommandanten befördert wird, holt der harte Stalin, den seine Vertrauten liebevoll „Soso“ nennen, in weiter Ferne von Spanien, in der Stadt Moskau, in seinem Büro zusammen: seine rechte Hand, den Henker Lawrenti Pawlowitsch Berija, und Pawel Sudoplatow, den Leiter für Spezialoperationen des NKWD. Ohne lange herumzureden, gibt er ihnen den ausdrücklichen Befehl, seinen Intimfeind Leo Trotzki zu liquidieren, koste es, was es wolle. Die Organisatoren werden für diesen Auftrag, der dem Diktator seit Jahren keine Ruhe läßt, die im spanischen Krieg aktiven Geheimpolizisten einsetzen: Ernő Gerő, Leonid Eitingon und Alexander Orlow, die direkten Verantwortlichen für die heimtückische Ermordung von Trotzkisten und POUMisten. Am Ende kann er nur mit zweien von ihnen rechnen, denn Orlow hat sich von Stalin auf Französisch verabschiedet und ist für immer in die Vereinigten Staaten geflohen. So kann er sein Leben retten, indem er den Großen Führer erpreßt. Eine gewaltige Glanzleistung, wenn man die diabolischen Neigungen seines Herrn bedenkt.

Für das Attentat entwickelt man drei Strategien, und bei allen bedient man sich russischer im Untergrund wirkender Agenten, außerdem einer Auswahl der besten Bürgerkriegskämpfer, die man in die UdSSR geschickt hat, um sie mit sowjetischer Prinzipienstrenge zu schulen. Ramón Mercader wird der letzte sein. Oder der erste auf der Liste, je nachdem, wie man es sieht. Das Trumpf-As. Übrigens der einzige, der Stalins Reich erst besuchen wird, nachdem er den Mord begangen hat.

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Ramón kämpft in Guadalajara an vorderster Front. Eines Tages im Jahre 1938, als die Kommunisten wissen, daß der Bürgerkrieg verloren ist, verschwindet er aus Spanien. Seine Mutter Caridad hat ihn über den Auftrag persönlich unterrichtet. Doch ihr Sohn wird nun nicht nach Moskau fahren, wie manche glauben. Seine Bestimmung erwartet ihn in Paris. Als er in die Stadt kommt, beginnt er ein neues Leben als belgischer Journalist und Sohn eines Diplomaten. Angeblich wurde er in Teheran geboren, hat an der Sorbonne studiert und heißt Jacques Mornard. Er tritt auf als leichtsinniger, aber einigermaßen gebildeter junger Mann, als diskreter Liebhaber und Millionär. Ich möchte es mit den Worten der Schriftstellerin Teresa Pàmies sagen, die ihn gut kannte: „Die Mädchen rissen sich um ihn, und ich habe ihn mit so vielen Freundinnen erlebt, daß ich sie nicht alle mit Namen nennen könnte.“

Was erwartet man von diesem Mornard? Daß er so etwas wie Stalins James Bond wird. Er erhält einen ähnlichen Auftrag wie der Topagent im Film. Er soll eine Frau in den Liebeswahn treiben, und sie soll ihm daraufhin Zugang zum Tatort verschaffen.

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Zwei wichtige Filme schildern den Hergang des Verbrechens, dazu kommen Bücher und Artikel. Mercader-Mornard (von Alain Delon gespielt) kann Trotzkis Arbeitszimmer betreten. Er hat einen Eispickel, einen Dolch und eine Pistole als Waffen dabei. Er entscheidet sich für die erste und radikale Methode. Seine Eltern erwarten ihn auf der Straße in einem Fluchtwagen. Er rammt den Eispickel in den Kopf seines Opfers, als dieses konzentriert einen Text durchliest, den ihm der Besucher als Köder mitgebracht hat. Er kann das Opfer tödlich verwunden, doch diesem bleibt noch Zeit, den Namen des Mörders hinauszuschreien. Der wird von den Wächtern festgenommen und geschlagen. Mutter und Stiefvater fliehen zum Flughafen. Der Sohn hat einen von Rabinowitsch geschriebenen Brief in der Tasche, in dem sein Alter ego Mornard bescheinigt, daß das „Attentat persönlichen Gründen gehorche, denn er kenne Trotzki persönlich, und dieser habe ihn enttäuscht“. Er sagt noch mehr.

Natürlich eine Komödie. Nur eines stimmt: Seine Verlobte Sylvia hat damit nichts zu tun. Die Erklärungen, mit denen er sich verteidigt, sind keine leeren Worte, obwohl sie wie die eines Schwachsinnigen klingen, wenn man sie liest. So sieht das Bild des sowjetischen Helden aus, den die UdSSR in der offiziellen Geschichte hinterlassen will. Der wichtigste Auftrag besteht darin, daß Stalin nicht in etwas so Niederträchtiges wie diesen Mord hineingezogen wird. Niemand wird es wagen, den Befehl zu erwähnen. Nicht der Täter und auch nicht die letzten reuigen Kommunisten der damaligen Zeit. Am Ende wird die ganze Welt den Verantwortlichen für den Mordauftrag kennen, doch der Schatten eines Zweifels verdunkelt weiterhin die historische Wahrheit, und das Bild des Henkers, der Trotzki aus „politischen“ Gründen getötet hat, bleibt bis heute unklar und entstellt.

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Im goldenen Käfig

Dieser wiederauferstandene Mercader, der die Mornard-Maske schon eingebüßt hat, ist 47 Jahre alt, als er die zwanzigjährige Strafe verbüßt hat. Unauffällig verläßt er das Lecumberri und fliegt unverzüglich zusammen mit seiner Frau Roquelia nach Moskau. Nun beginnt sein goldenes Gefängnis. In der Sowjetunion wird er mit allen Ehren empfangen und mit der höchsten Auszeichnung seines Asyllandes geehrt, dem Titel „Held der Sowjetunion“, und auch mit dem Leninorden. Obwohl er einen anderen Namen trägt, den man ihm gegeben hat, findet das Fest selbstverständlich im engsten Kreis und anonym statt. Auch dort im fremden Land darf niemand Bescheid wissen, welchen Grund diese höchste Auszeichnung hat, die es Mercader erlaubt, sich mit allen möglichen Privilegien durch die Hauptstadt Moskau zu bewegen. Mit sämtlichen Privilegien außer einem: der Freiheit, er selbst zu sein.

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Erratum:
Versehentlicherweise wurde in der gedruckten Version des Textes der Familienname Eitingon als Eitington wiedergegeben.

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