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Cover Lettre International 55, Roberto Cabot
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Inhaltsverzeichnis

LI 55, Winter 2001

Späte Erleuchtung

Bekenntnisse eines angejahrten Ecstasy-Essers

(...) Und so nahm ich zum erstenmal E – oder X, EX, XTC, MDMA (Methylendioxymethamphetamin), auch ADAM genannt – weil ich meinem Sohn erlaubt hatte, mir welches zu verkaufen. Ich wurde sein Kunde, ein Käufer, ein zuverlässiger und regelmäßiger Abnehmer, das letzte Glied der Nahrungskette jenes Milliarden-Dollar-Geschäfts, das Tag für Tag und Stunde für Stunde in jeder großen Stadt und jedem kleinen Dorf in jedem Staat dieses Staatenbundes kaum behindert mit Waren betrieben wird, die von denen, die dafür bezahlt werden, dagegen zu "kämpfen", wie auch von denen, die sie verkaufen, "kontrollierte Substanzen" genannt werden.

Du mußt mir verzeihen – ich möchte nicht selbstgefällig erscheinen – aber ich finde das komisch. Ich finde das paradox. Es belustigt und erheitert und amüsiert mich. Weil ich mir keinen einzigen Gebrauchsgegenstand in unserem Land denken kann – ein Land, das ich, so unaufrichtig das klingen mag, überaus liebe und gut kenne und für das mein Vater und sein Vater gekämpft und viel aufgeopfert haben –, der weniger kontrolliert ist als diese Substanzen, und auch keinen einzigen "Krieg", der so kläglich vergebens, so großspurig schimärisch und seit so langer Zeit längst verloren ist wie dieser. Ich bin keineswegs ohne Mitgefühl für diejenigen, die schließlich nur ihre Arbeit machen (häufig unter Lebensgefahr) – so sehr ich diesen Frontsoldaten auch zurufen möchte, sie täten besser daran, sich eine andere Arbeit zu suchen –, aber ich bin ein unverbesserlicher Feind aller Vorgehensweisen und Gesetze (oder eher jener verdrehten, falschen, schäbigen Logik, die sie ersonnen hat und daran festhält), die, wenn auch noch so gut gemeint, so unentschuldbar dumm, so furchtbar schlecht durchdacht, so von Grund auf unehrlich und, in der Unbrauchbarkeit und Ungerechtigkeit ihrer Anwendung, so unfair wie idiotisch sind.

Erst vorige Woche habe ich mir den Film Traffic angesehen. Guter Film, wenn auch nicht annähernd so gut, wie die Kritiker zu glauben scheinen; wie so oft geht ihre Kritik daneben. Traffic ist kein Film über das Unheil der Drogen und die Unmenschlichkeit des Drogenhandels, es ist vielmehr ein Film über die Idiotie unserer Drogenpolitik und das Unheil, das sie nicht nur hervorruft, sondern auch prächtig am Leben erhält.

Warum ist das so schwer zu begreifen? Was hindert uns daran, die aus unserer Niederlage gewonnenen Erkenntnisse in Demut anzunehmen? Warum heucheln wir? Ist es wirklich notwendig, Statistiken zu zitieren oder die ebenso törichte wie abgedroschene Rhetorik von "Experten" zu bemühen? Wir wissen es besser, wir sollten es besser wissen: Die Schrift steht an der Wand, die Zahnpasta ist aus der Tube, Rom ist längst niedergebrannt, der Kaiser trägt keine Kleider, und unsere Torheit ist auf die Urheber zurückgefallen. Man kann gegen Kommunalpolitik aufbegehren, aber man kämpfe wie man wolle, den Appetit des Menschen kann man weder umformen noch aufhalten, so wenig, wie man mit einem Schwenken des Zauberstabs aus einem Schwulen einen Hetero machen oder Gott dazu bewegen kann, er möge das ökumenische Licht seiner Allwissenheit auf dieses Thema werfen.

Ecstasy wurde im Juni 1985 als illegale Droge erster Kategorie eingestuft – zu verdanken haben wir das dem intellektuellen Superstar Lloyd Bentsen, einem Senator aus Texas. Demnach ist es gesetzlich dem Heroin gleichgestellt. Und dieses groteske Mißverhältnis entspricht exakt jenem durchgedrehten Regierungswahnsinn, der todsicher dafür sorgt, daß Menschen wie ich – und noch wichtiger: unsere Kinder – eine solche Regierung und diejenigen, die ihren Gesetzen Geltung verschaffen, als ahnungslos abtun, als tyrannisch, moralisch bankrott und, ja – wacht auf, Leute! wacht endlich auf und erkennt die Zeichen der Zeit! – unamerikanisch. Denn Amerika steht nicht, oder stand jedenfalls früher nicht dafür, Sechzehnjährige ins Gefängnis zu werfen, weil sie – und doch nur im Geiste der freien Marktwirtschaft und unternehmerischen Wagemuts – ein bißchen Cannabis angebaut haben, derweil wir anderen eine Camel nach der anderen rauchen, einen Wodka nach dem anderen kippen und massenhaft Prozac schlucken.

Ich empfehle dir, gelegentlich mal ein Rehabilitationszentrum zu besuchen. Dort wirst du schon in der ersten Stunde zwei Dinge lernen. Erstens, daß es auf dieser Welt Menschen gibt – manche davon recht bewundernswert, andere deutlich weniger –, die anfälliger für Süchte sind als andere; Süchtige hat es immer gegeben und wird es immer geben. Und zweitens, daß das "Einstiegs"-Argument als allzu vereinfachend nichts taugt. Wir verlieren unsere Kinder nicht an Drogen. Wir haben unsere Kinder verloren, weil wir weder Zeit noch Lust, weder die Charakterstärke noch den politischen Willen haben, in ihrem Namen das Richtige zu tun: den schwarzen Markt, der sie so erbarmungslos ausbeutet, und die daraus resultierende Kriminalität unter jugendlichen Ausreißern zu beseitigen, indem wir den Handel legalisieren, besteuern und in geordnete Bahnen lenken.

"Kontrollierte" Substanzen? Leider eine Fehlbezeichnung, über die wir lachen könnten, wenn wir nicht eher darüber weinen sollten. Es gibt keine Kontrolle. Es gibt Bürokratie, es gibt eine sogenannte Politik und ein paar Gesetze, und das alles ist nichts als Heuchelei und Vernebelungstaktik, von der sich immer weniger Menschen täuschen lassen. "Die Plage zu beseitigen und die Pest zu tilgen" – dazu gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich: den sogenannten Krieg gegen die Drogen zu gewinnen – ihn so zu gewinnen, daß der Sieg eine wenn auch noch so kleine Chance hat, von Dauer zu sein –, und der Name dieser Möglichkeit besteht aus zwei Worten, Worten, die amerikanischer sind als jedes andere Wortpaar, das ich mir denken kann (außer vielleicht "Uncle Sam"): Wall Street.

Andererseits: wen interessiert's, was ich denke? Jeder kann denken, was er will, zu jedem Thema, und das tut ja auch jeder. Ich tue nicht so, als hätte ich die Weisheit gepachtet. Aber mit Ecstasy kenne ich mich aus, vielleicht sogar recht gut, besser als die meisten, und mit Sicherheit besser als die Mehrheit meiner vergleichsweise fortgeschrittenen Altersklasse. Und was ich weiß, weiß ich, weil ich seit geraumer Zeit so viel davon zu mir nehme. Ich bin ein erfahrener, erprobter, altgedienter E-Konsument - eine Schätzung, wieviel genau ich geschluckt habe, würde ich nicht wagen, aber es war sicher eine ganze Menge –; das ist eine Tatsache, die mich weder stolz noch kleinmütig macht.

Und hier kommt, mit einem Wort, einem ganz nüchternen, ja melancholischen Wort, was ich weiß: Lecker.

Ecstasy ist herrlich. Oder, anders ausgedrückt, Ecstasy ist herrlich, und ich kann nur jedem, dessen Gesundheitszustand – physisch und psychisch – die Einnahme nicht geradezu unratsam erscheinen läßt, heftig, laut und nachdrücklich empfehlen, es einmal auszuprobieren. Junge und Alte, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Schwule und Heteros, Schwarze und Weiße, Heilige und Sünder, Genies und Idioten, Christen und Juden und Moslems, Demokraten, Republikaner und Unabhängige, Gesetzgeber und Gesetzesbrecher, Herzensbrecher und gebrochene Herzen, sexuell Degenerierte und sexuell Enthaltsame, die ganze verdammte Regenbogenkoalition. (Ob ich vorsätzlich provoziere? Selbstverständlich. So sehr, wie ich es vollkommen ernst meine.)

Geht los, rufe ich euch zu, euch allen, begebt euch dorthin, streift durch die Straßen oder schnappt euch den Dealer in der Nachbarschaft, bahnt irgendeinen Kontakt an, kauft das Zeug, verfügt euch nach Hause, dämpft das Licht, legt Musik auf – eure Lieblingsplatte –, stellt einen Krug Eiswasser bereit, oder besser zwei, dazu eine Dose Pfefferminztabletten, eine Tube Vick zum Inhalieren sowie einen kleinen Vorrat Kühlsalbe, macht es euch gemütlich, lehnt euch zurück und ... schluckt.

Schluckt die Pille, laßt sie in den Magen gleiten, und entspannt euch. Werdet ganz ruhig, in Geist und Seele. Noch eine Stunde, vielleicht schon etwas früher, und ihr werdet etwas erleben, das ihr nie zuvor erlebt habt. Ihr werdet etwas erleben, das ihr nie vergessen werdet. Ihr werdet etwas erleben, das euch für den Rest eures Erdenlebens verändern wird. Ihr werdet etwas erleben, das euer Leben in zwei Abschnitte teilen wird: vorher und nachher. Ihr werdet etwas erleben, das in jeder einzelnen Sekunde herrlich ist – herrlich und über alle Maßen wunderbar.

Das ist eure Selbst-Initiation, und ich beneide euch darum. Ich beneide euch um dieses erste Mal. Also genießt es, kostet es aus, laßt euch hineinsinken. Heiligt diese heiligen vier Stunden. Denn ihr habt Manna zu euch genommen, Ambrosia und Honigwein, ihr habt gegessen von Glanz und Gnade.

Bevor ihr die Pille schluckt, vergewissert euch aber, daß sie authentisch ist, echt und sauber, und nicht irgendein unwirksames Zeug oder gar eine schädliche Fälschung. Habt ihr dies getan, ist der Rest ein Kinderspiel, ein Kinderspiel freilich, wie ihr es noch nie erlebt habt. Denkt an den schönsten Tag eures Lebens, oder erinnert euch an das Beste, Reinste, Außerordentlichste, das euch je begegnet ist – Menschen, Orte, Augenblicke, Erinnerungen, Gefühle, Erfahrungen, Leistungen. Habt ihr's? Jetzt multipliziert das mit zehn. Und ihr ahnt noch immer nicht im entferntesten, welch unglaublich herrliche Wirkung Ecstasy entfaltet.

Ich bin mir durchaus bewußt, wie sehr dies an Timothy Learys oft leicht verrückte LSD-Predigten erinnert, und ich weiß, wie fehl am Platz das von ihm damals herumposaunte Ethos ist – turn on, tune in, drop out –, aber das hier hat damit nichts zu tun. Ecstasy klärt den Geist. Darin besteht sein Wert. Es befähigt einen, wenn nicht tiefer, so doch auf jeden Fall klarer zu sehen, zu fühlen und zu denken. Es klärt den Kopf von allem, was unklar ist, so daß man diese neue Klarheit deutlicher – und unmittelbar – erleben kann. Und nicht nur, solange die Wirkung anhält. Der Rausch klingt ab wie jeder Rausch, aber die Klarheit bleibt. Sie ist der Rückstand des Rauschs.

In diesem Sinne, ganz zu schweigen von der chemischen Zusammensetzung, ist Ecstasy so ziemlich das Gegenteil von LSD, das auf dem Höhepunkt seines Gebrauchs mit allen möglichen religiösen Bemäntelungen und Inhalten verbrämt wurde – wahrscheinlich heute noch; ich habe LSD nie genommen und gedenke dies auch nicht zu tun. (Nebenbei gesagt, man hat auf E keine Halluzinationen, nicht einmal ansatzweise, ich zumindest nicht. Und man glaubt auch nicht, man werde zu jemand oder etwas anderem – man bleibt unzweifelhaft man selbst, nur in überaus gesteigertem Maße.) Ecstasy hat mit Religion nichts zu tun; die Suche nach etwas Größerem oder Höherem, der Sinn von Gott und Dasein, das Wunder des Glaubens, oder wie man es nennen will – das alles ist, wenngleich nachvollziehbar (auf E ist sehr vieles nachvollziehbar, viel mehr als sonst), so doch größtenteils Unsinn. Es gibt keine Notwendigkeit mehr, zu suchen, denn das Gesuchte ist hier, hier und jetzt – die Geburt eines besseren Zustandes.

Ecstasy klärt den Geist, aber nur den des Einzelnen. Trotz des Geschreis von Frieden, Liebe, Einheit und Respekt, das darum gemacht wird, wirkt es nicht universell. Seine Lehren mögen universell in ihren Folgen sein, sind aber letztlich nur dazu da, daß man sie auf sich selbst anwendet, sie also nicht mit Nachbarn, Freunden, Kollegen oder der Allgemeinheit teilt. Womit nicht gesagt sein soll, daß die Droge keine gesellschaftlichen Dimensionen hat oder daß man E nicht zusammen mit anderen Menschen nehmen sollte. Tatsächlich finde ich es wenig ratsam, E allein zu nehmen, und habe es auch nie getan. (Einmal allerdings war ich nahezu allein, in einer menschenleeren, nächtlichen Nebenstraße im Zentrum von London: Es regnete, und es war ein denkwürdiges Erlebnis – Neon, Regenglanz, Menthol, alles mit dicken Schichten zähen Honigs überzogen. Herrliche Straßen, London, und dieser herrliche, ach so herrliche Regen.)

Aber viel besser ist es, E mit Menschen zu nehmen, die man gern hat, und am allerbesten mit der Frau, die man liebt. Um das richtig zu erfassen, muß man es freilich selbst machen. Sich die Geschichten und Anekdoten anderer anzuhören, sich von ihren daraus gewonnenen Erkenntnissen erzählen zu lassen, einen Artikel wie diesen hier zu lesen – das alles kann nicht schaden, aber jeder nimmt von E etwas anderes mit, etwas, das so einmalig und individuell ist wie der Mensch, der es genießt. Und wenn das, was man davon mitnimmt, im weitesten Sinne mit Empathie und menschlichen Beziehungen zu tun hat – E hat sich bei gewissen Arten von Paartherapie als hochwirksam erwiesen –, so hat es noch viel mehr mit der Beziehung und Empathie des Individuums im Verhältnis zu sich selber zu tun. Ecstasy ist, im Gegensatz zu seinem Image als aktuelle Modedroge der Jugend und seinem ausgiebigen Gebrauch bei ihren bacchanalischen, nächtelangen Stammestänzen – den "Raves" –, eine sehr intime Droge.

Ich habe es das erste Mal zusammen mit der vorhin schon erwähnten Frau genommen, der, die mich gerettet hat. Es war auch ihr erstes Mal. Wir beide hatten Drogen bis dahin weder genommen oder auch nur damit experimentiert – sondern uns wie üblich auf Wein, Bier und Zigaretten beschränkt, und zwar maßvoll – und als die Stunde X heranrückte, waren wir sichtlich nervös und ängstlich, was ich für gesund und durchaus vernünftig halte. Vielleicht – wer weiß? – steigerte dies sogar noch die Wirkung dessen, was sich dann ereignen sollte.

Wir hatten Pillen der Marke Calvin Klein. EX ist in vielen Formen, Größen, Farben und Markennamen zu haben – Nike, Mitsubishi, Motorola, Versace, Rolling Stones usw. – es gibt Tausende Sorten, und jede hat hinsichtlich der Qualität und Dauer des Rauschs ihre feinen Besonderheiten. Wenn ich mich recht erinnere, waren sie rund, vielleicht länglich, etwa von der Größe einer Tylenol, kleiner, und von einem irgendwie beruhigenden Bernsteingelb. Wie gesagt, ich war zu ängstlich, um alle Einzelheiten genau wahrzunehmen. Das laute Pochen meines Herzens war mir im Weg.

Wir hatten alle Termine rechtzeitig abgesagt, die Telefone abgeschaltet, und nun waren wir bei ihr zu Hause, nur wir beide, im Bademantel, auf der Couch im Wohnzimmer – einer Couch, sollte ich hinzufügen, mit der wir beide inzwischen gut bekannt waren. Aus den Lautsprechern kam Van Morrison, Astral Weeks, Moondance, Common One, The Best of: Volume One. Ein Feuer brannte im Kamin, und wir legten fleißig nach. Die Lampe auf dem Beistelltisch war stark abgedunkelt. Der Abend war fortgeschritten, und wir hatten, wie mein Sohn uns geraten, zwei große Gläser und Karaffen mit Eiswasser bereitgestellt. E erhöht Körpertemperatur, Puls und Blutdruck, und daher ist Wasser - nicht Bier, nichts Alkoholisches – auf dem Trip unerläßlich. Und man will auch trinken, da E dehydrierend wirkt – eine der unmittelbarsten Nebenwirkungen ist ein trockener Mund. (Interessant, weil das, was es mit den Gefühlen tut, das genaue Gegenteil ist. Es schmiert und ölt die Gefühle wie Gel, Butter und Lotionen.)

Unter beiderseits nervösem, ernst-komischem, feierlichem Geplapper warfen wir schließlich jeder unsere Pille ein, schluckten, warteten, und – nichts.

Wir sahen uns in die Augen. Wir lebten noch. Ich nehme an, das wunderte uns nur teilweise. Ich weiß, daß wir erleichtert waren. Van sang noch immer, wie nur Van singen kann. Ich wußte, wenn ich jetzt sterben würde, würde ich es mir genau so wünschen; ich kann mir zu meinem letzten Atemzug schlimmere Stimmen vorstellen als die des Belfaster Cowboys, wenn er singt: "It's too late to stop now!", und das traf in diesem Augenblick ja auch zu. (Die Jungen stehen auf andere Musik: Techno, Elektronik, Trance, Jungle, House, Hardcore, Gabba, Drum'n'Bass, und all das hat, wie ich den Lesern einer anderen, älteren Generation, meiner Generation, ans Herz legen möchte, durchaus seine Verdienste. Es ist die akustische Attacke schlechthin, eine Sturzwoge aus Schall, eine Musik, die maßgeschneidert ist, den Nutzen einer eher, sagen wir, kinetischen Erfahrung zu maximieren. Jedem das Seine.)

Bei Ecstasy tritt die Wirkung mit einer gewissen Verzögerung ein. Fünfunddreißig Minuten wäre zu schnell, das Doppelte zu langsam. Es kommt drauf an – hauptsächlich auf die Pille selbst, aber auch auf den Mageninhalt (leer ist besser als voll), auf die Stimmung (gut ist besser als schlecht), auf den physischen und geistigen Gesamtzustand (wach ist besser als erschöpft). Jedenfalls sitzt du beim ersten Mal da und fragst dich – weil du ja genug Zeit dazu hast –, ob das, was gleich geschehen soll, auch wirklich geschehen wird, und falls ja, wann genau es eintreten wird und woran du es erkennen wirst. Und dann kommt's, die Wirkung setzt ein – die Welt um dich her schlägt sich groß auf wie ein Auge –, und du stellst dir keine Fragen mehr. Du läßt es einfach sein, du brichst auf, oder eher, du wirst aufgehoben und mitgenommen – leuchtend, gekrönt, geschmückt, glitzernd, blinkend, dein lächelndes Gesicht strahlend wie tausend Kronleuchter.

Eine der deutlichsten Frühwirkungen – beim erstenmal habe ich sie erlebt, später nicht mehr oft; das hängt von der chemischen Zusammensetzung der Pille ab – besteht in dem, was andere "Flattersehen" nennen; ich selbst würde eher von "taumelndem", "rüttelndem" oder "wackligem" Sehen sprechen. Es ist dies das einzige halbwegs halluzinatorische Phänomen, das von E hervorgerufen wird, und es ist so schwach – und seltsam angenehm –, daß man eigentlich nicht von einer Halluzination sprechen sollte. Als es bei uns auftrat, wußten wir sofort Bescheid – das heißt, wir wußten, da geht es vor, etwas ... Besonderes – und wir lächelten uns an und machten wie aus einem Mund eine Bemerkung dazu. Unser Kommentar – man bedenke, wir sind beide fünfzig Jahre alt – lautete: "Cool."

Das ist nicht leicht zu beschreiben. Die optische Wahrnehmung wird nicht etwa unscharf, auch nicht dunkler oder heller, kein Pulsieren, Expandieren oder Kontrahieren, das Gesehene zerfällt nicht, löst sich nicht auf, wechselt nicht die Farbe, sondern erscheint ein wenig abgehackt, könnte man sagen, abgehackt, aber nicht zerhackt. Soll heißen, es bleibt vollständig und an Ort und Stelle – eine Lampe ist eine Lampe, ein Fenster ist ein Fenster, ein Feuer ist ein Feuer – es ruckt nur, als sei "gezackt" ein Verb, ein wenig innerhalb der Struktur seiner Umrisse. Streifeneffekt. Ganz und gar nicht bedrohlich, sondern absolut, nun gut: cool. (Krass. Fett. Was auch immer.) Es gibt mit Sicherheit eine medizinische Erklärung dafür, vielleicht sogar einen Namen, aber davon weiß ich nichts und will ich auch nichts wissen.)

Und plötzlich sang Van gaaaanz weit da draußen, und dann gaaaanz weit hier drinnen, mitten drin, am Bodennullpunkt, im Epizentrum, im Innersten meines Gehirns, mitten hindurch und doch weit draußen und hoch oben und tief unten und überall ringsum, die Stimme schwang auf und nieder, kreiste in Spiralen, glitt umher, schwoll an, stürzte hervor, überschwemmte und umfloß das Zimmer und erfüllte und überspülte und umarmte mit der Macht ihrer Verzückung, mit den Schwingen ihres Gondelns alle Winkel und Gänge und Nischen des Hauses in meinem Kopf. Ein geräumiges Durchziehen jeden einzelnen Tons dieser Musik, nicht nur als Sound, sondern als klingender Raum – Partikel, Welle – und auch als Zeit, wie ich seither erfahren habe. Und auch das war: cool.

Als nächstes wurde alles und jedes, ohne sich dabei zu verändern – alles blieb, was es war – nein, es wurde nicht, es war plötzlich anders, umgewandelt, umgemodelt, neu, gleichzeitig tiefer und höher, älter und neuer und damit besser – auf einmal war alles glatter und weicher und runder, alle Kanten gepolstert, alle Oberflächen poliert. Und wärmer. Das war eigenartig. Denn es fühlte sich nicht wärmer an, es sah nur wärmer aus. Aber so sehr die Umgebung ... erblühte, dies Erblühen geschah, wogte, schwoll in mir selbst, ein harmonischer Hauch von Wohlbefinden, urverwandt und deckungsgleich mit einer Heimkehr – die Welt als Nest und Mutterleib.

Auf jeden Fall war die Welt plötzlich frei von Schuldgefühlen und Sorgen, spürbar, wunderbar heiter und gelöst – optisch, sensorisch, akustisch – übersinnlich gut und erneuert, fesselnd und intensiv und erhaben und glorreich und göttlich (wie armselig, wie kümmerlich Worte zuweilen sind), es war mehr als alles, was ich jemals für möglich gehalten hatte. Oder vielleicht hatte ich es für möglich gehalten, und vielleicht gehört dies auch dazu: daß alles Schöne, das man sich vorstellen kann oder sich jemals vorgestellt hat, auf E noch um vieles schöner ist. Ich kann diese These nicht beweisen, sie würde bedeuten, daß Menschen mit einer aktiveren, fruchtbareren, entwickelteren Phantasie auf E bessere und unübertrefflich schönere Erlebnisse haben müßten. Oder vielleicht ist es einfach so, daß sie ein feineres Organ für die Schönheit dieser Erlebnisse besitzen. Wie gesagt, beweisen kann ich das nicht, und ich wüßte auch nicht, wie das möglich sein könnte. (Das ist so ähnlich wie die alte Frage, ob der besser ausgestattete Mann auch einen intensiveren Orgasmus habe. Wie soll man so etwas messen? Es gibt keine Vergleichsbasis und kann auch keine geben.) Trotzdem scheint mir die Annahme richtig.

Wir sahen uns an, wir berührten uns mit Fingern, Lippen und Zungen, mit unseren ganzen neu entdeckten Gesichtern, wir erforschten die neue Landkarte unserer Körper – neues, weicheres Haar, neue, glattere Haut, neue, rosigere, frischere, duftendere, schimmerndere, flauschigere Genitalien (flauschiger ist genau das richtige Wort) –, wir rochen und schmeckten einander - sie roch wie überreife Pfirsiche und schmeckte wie frisch gewonnenes Perlsalz – denn der Geruchs- und Geschmackssinn wird nicht weniger gesteigert und intensiviert, verfeinert und verstärkt als alle andere Sinne. Das heißt, wir badeten ineinander jeder mit allen fünf Sinnen, zehn also insgesamt, denn hier hatte eine Vermischung stattgefunden, ekstatisch, menschlich und zärtlich. Und wie die Welt einen einschließt, und wie sie in diesem Augenblick meine Geliebte mit einschloß, sahen wir einander genau so, wie wir uns anfühlten und rochen und schmeckten: verzückt, himmlisch, überirdisch, spirituell, leuchtend. Sie eine prangende, mit Juwelen geschmückte Göttin, ich ein strahlender Gott. "Ihre Augen öffneten sich in die Seele des anderen", beschreibt Don DeLillo eine ähnliche Erfahrung, das "Fließen der Zeit". Exakt so war es, so und nicht anders.

Später, noch immer in der Strommitte, stand ich auf, ging ins Bad – Gehen auf E ist nicht schwieriger als Gehen auf Wasser oder Fliegen – und schaute in den Spiegel. Ich wollte wissen, wie ich aussah – ich bin immerhin so eitel, daß dieser Wunsch mich sogar mitten im Rausch überkam – dabei hatte ich schon im Spiegel der Augen meiner Geliebten gesehen, daß ich hinlänglich, es gibt kein anderes Wort dafür, großartig aussah. (Wenn ich nur halb so großartig aussah, wie sie mir erschien, konnte ich mich wohl auf einiges gefaßt machen, dachte ich.) Und der Mensch, der mir da entgegensah, war wirklich großartig, jedoch großartig auf eine Weise, die mich fast ebenso sehr deprimierte, wie sie mich begeisterte.

Wie schon erwähnt bin ich fast fünfzig Jahre alt, und als ich mich dort mit verblüfftem Grinsen anstarrte, sah ich aus wie achtundzwanzig. Und zwar nicht wie die fünfzigjährige Version meiner selbst mit achtundzwanzig, sondern ich war es selbst als Achtundzwanzigjähriger. Ich rückte näher an mich heran, sah genauer hin. Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte mich selbst zurückerobert. Dorian Gray. Jungbrunnen. Speise der Götter. Spontane Erneuerung. Metempsychose. Irgendwie war ich wiederhergestellt worden, und dabei empfand ich etwas, das ich nur als alles verzehrende Sehnsucht nach der Gegenwart beschreiben kann.

Und dann, nachdem wir uns gegenseitig aus unseren Bademänteln geholfen hatten, unseren alten, knotigen Bademänteln aus Baumwolltwill – die plötzlich aus feinster Kaschmirwolle und Seide waren, ein Hauch von Talkum und Daunen –, nahmen wir uns in die Arme, küßten uns und kamen, wie man so sagt, wie man auch früher schon sagte, zur Sache, und sie flüsterte mir ins Ohr: "Mann, wir haben Gold gefunden!"

Es war entschieden kein außerkörperliches Erlebnis, auch keine bewußtseinserweiternde Erfahrung.

Es war entschieden ein zutiefst innerkörperliches Erlebnis und eine das Bewußtsein klärende Erfahrung. Eine undurchdringlich durchdringende Erfahrung. Ein Ausgraben des Ichs. Ein Exhumieren des anderen. Denn so findet man Gold – man exhumiert es, man hebt es aus, man gräbt danach, tiefer und immer tiefer.

(...)

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