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Lettre International 151
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Inhaltsverzeichnis

LI 151, Winter 2025

Auf das Leben!

Ein Kind jüdischer Einwanderer wird zum Starjuristen der Nation

(…)

Darius Rochebin: Wenn Sie über Ihre Groflmutter Idiss, Ihre Mutter Charlotte oder Ihren Bruder Claude sprechen, spürt man eine grofle Wärme in Ihren Worten. Ihr Vater aber nimmt in Ihren Erinnerungen einen ganz besonderen Platz ein.

Robert Badinter: Meinen Vater konnte man mit einem einzigen Wort beschreiben: Sanftmut. Er war buchstäblich die Verkörperung der Sanftmütigkeit.

Ein Photo zeigt Sie am Strand, auf dem Schoß Ihres Vaters sitzend. Sie haben den Arm um seine Schultern gelegt, mit all der Zärtlichkeit, die ein Zehnjähriger fürr einen liebevollen Vater empfindet. Das war 1938, ein Jahr vor der Apokalypse. 
Mein Vater hat die Härten des Lebens kennengelernt. In Rußland hatte er vor dem Ersten Weltkrieg in der Armee des Zaren gedient. Er stand unter feindlichem Beschuß und kehrte verwundet zurück. Er hatte um sich herum Kameraden fallen sehen, die tot oder verstümmelt waren. Als er dann in Frankreich war, hat er sich aufgeopfert, um die Familie zu versorgen. Er war im Pelzhandel ziemlich erfolgreich. Wir sind zu einem gewissen Wohlstand gelangt. Wir waren Kleinbürger geworden, oder vielleicht eher „Mittelstandsbürger“. Dieser hart erkämpfte Weg hat ihn aber keineswegs verhärtet. Zu irgendeiner Grobheit, wie das Vorurteil sie Vätern oft zuschreibt, war er unfähig.

Unter Sartres prätentiösen Dummheiten hat mich eine berühmte Formulierung stets frappiert: "Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel."
Sartre hat viel Unsinn geredet, darunter diesen Satz, der ins Gebiet der Küchenpsychologie fällt. Wie war Ihr Vater?

In manchen Punkten ähnelte er dem Ihren. Auch ihn zeichnete eine unerschütterliche Freundlichkeit aus. Mein Vater Alishah wurde 1917 in Persien geboren, bevor der Zufall ihn nach Europa führte. Auch er hat die Sprache Victor Hugos und Chateaubriands gesprochen, die er am französischen Gymnasium in Teheran gelernt hatte. Ich fühle mich etwas schuldig: Ich denke nicht mehr oft genug an ihn.
Wenn wir von den Toten sprechen, hören sie uns zu. Das hat meine Großmutter behauptet. Sie haben recht, man denkt nie oft genug an sie. Auch ich habe mich bisweilen schuldig gefühlt. Ich erinnere mich an seltsam frohe Stunden im Jahre 1943, trotz der Ungewißheit über das Schicksal meines Vaters und obwohl wir, untergetaucht in einem Dorf in Savoyen, ein Leben im Verborgenen führen mußten. Wir gingen mit Freunden im Lac du Bourget oder im Lac d’Annecy schwimmen. Wir veranstalteten Kopfsprungwettbewerbe. Wir haben uns dem völlig ausgelassen hingegeben. Am Abend hat mich dann die Angst wieder eingeholt. Einige Monate zuvor, am 9. Februar 1943, war mein Vater während der Razzia in der Rue Sainte-Catherine in Lyon verhaftet worden. Ich stellte mir vor, daß er in einem Arbeitslager irgendwo im Osten, in den kalten und finsteren Wälder Polens, gelandet sei. Ich schämte mich dafür, einen ausgelassenen Kurzurlaubstag am Wasser verbracht zu haben. 

Was wußten Sie damals von der Deportation?
Nichts, oder fast nichts. Der Gedanke der Vernichtung, die Gaskammern, die von der SS durchgeführte Selektion nach Ankunft der Züge, all das war unvorstellbar. Ich stellte mir eine Art Straflager vor, Zwangsarbeit, die sicher sehr hart und gefährlich war, aber mit Chancen, ihr letztlich entrinnen zu können. Natürlich litt ich deswegen mit ihm, und ich war mir auch der Gefahren bewußt, die uns drohten. Der Mensch ist jedoch erstaunlich anpassungsfähig. Wir schwankten zwischen ruhiger Sorglosigkeit und größter Besorgnis, je nach Tages- oder Nachtzeit. Am Abend stellten mein Bruder und ich eine Tasche mit Kleidung, Schuhen und etwas Geld neben unsere Betten. Im Falle einer Razzia mußte man bereit sein, aus dem Fenster zu springen. Es war nur angelehnt. Wiederholt hatten wir unser Drehbuch für den Fall einer eiligen Flucht getestet. Damals konnte ich nur schwer einschlafen, wie man eben mit 15 Jahren einschläft. In meinen Träumen kehrte mein Vater zurück. In jenem Sommer, als ich am Seeufer spielte, war er jedoch bereits tot. Ich habe es erst viel später erfahren. Er war mit dem Transport vom 25. März 1943 deportiert und bei der Ankunft im Lager Sobibor am 27. März ermordet worden.

Wie lange haben Sie noch von seiner Rückkehr geträumt?
Ich träume heute noch davon.

(…)

Mitterrand oder Die Kunst, frei zu sein

Nach Henry Torrès scheint François Mitterrand der zweite Glücksfall zu sein, den das Schicksal Ihren Weg kreuzen ließ.
Wenn Sie diesen Ausdruck verwenden, dann ist es Élisabeth, meine Frau, die der Glücksfall meines Lebens war. Dazu werde ich aber nicht mehr sagen. Sie kennen meine Regel. Das Privatleben soll privat bleiben.

Sie haben eine sehr bestimmte Art, Grenzen zu setzen. Das habe ich bereits bei unserer ersten Begegnung vor nun schon dreiflig Jahren bemerkt.
Man hat mir eine Art hochnäsige Distanziertheit vorgeworfen. Aber ich halte daran fest. „Was du nicht gesagt hast, gehört dir, was du gesagt hast, gehört deinem Feind.“ Von wem ist das? Vielleicht vom Kardinal de Retz? Verschwiegen oder diskret zu sein, ist auch die Grundlage der Loyalität.

Wer profitiert davon innerhalb Ihrer Zitadelle?
Zitadelle … Sie übertreiben. Natürlich die Meinen. Und die Freunde. Sowie die Klienten, deren Anwalt ich war. Und ich füge noch hinzu: der Staat. Während meiner Zeit als Regierungsmitglied war ich bestürzt über die Lockerheit und Unverfrorenheit bestimmter, leider zahlreicher Kollegen, die jeden Mittwoch Vertrauliches ausplauderten, kaum daß sie den Ministerrat verlassen hatten! Alle plappern munter drauflos.

Man sagt, Mérimée habe folgende Devise auf einen Ring prägen lassen, den er nie abnahm: "Denk daran, mißtrauisch zu sein!" Das führt uns zu Mitterrand zurück. 
In der Tat. Mit Ausnahme seiner engsten Berater hielt sich Mitterrand gegenüber jedermann bedeckt. Wenn sich im Restaurant der Ober näherte, senkte er die Stimme und das Ganze bekam einen Hauch von Konspiration. Vorsicht! Könnte das nicht ein Polizeispitzel sein?

War das eine Prägung durch die Observatoire-Affäre? Als er 1959 beschuldigt wurde, ein vorgetäuschtes Attentat gegen sich in Auftrag gegeben zu haben, ist er nur knapp dem politischen Tod entronnen.
Das hing eng mit seinem Charakter zusammen. Mit seinem Willen, alles zu kontrollieren und zu beobachten. In diesem Beherrschungswillen war er doppelt Meister. Den anderen gegenüber und sich selbst gegenüber. Dieses doppelte Bemühen garantierte ihm eine Freiheit, die ich bei niemandem sonst erlebt habe. Ebendies habe ich dank ihm gelernt. Es gibt eine Kunst, frei zu sein, die aus vielen Zwängen besteht.

Sobald Sie über ihn sprechen, erhellt sich Ihr Gesichtsausdruck.
Ja, wenn ich an ihn denke, muß ich schmunzeln. Denn wir haben uns miteinander sehr amüsiert. Unsere Freundschaft war durchweg von heiterer Freude geprägt. Nicht, daß Sie denken, das sei erst später so gekommen, indem arrivierte – ein schreckliches Wort! – alte Männer ihre Macht genießen. Nein! Wir haben uns schon in den 1960er Jahren amüsiert, als die Schalthebel der Macht noch außer Reichweite schienen. Die Observatoire-Affäre, deren Stürme Sie erwähnten, hat Mitterrand durch die Kraft seiner Beharrlichkeit überwunden. Er sprach zu uns mit großem Ernst von der Eroberung der Macht. Er war der einzige, der absolut davon überzeugt war. Wir bildeten eine kleine Gruppe von Getreuen, doch der Sieg schien uns eine ziemlich unsichere Hypothese zu sein.

Ich sehe auf Ihrem Schreibtisch ein Photo von Ihnen beiden. Er, der Präsident der Republik, und Sie, sein Minister, beide im Frack. Das war am Rande eines sehr formellen Staatsempfangs. Er flüstert Ihnen etwas ins Ohr, und das Geheimnisvolle dieser Szene scheint Ihnen beiden Vergnügen zu bereiten. 
Mitterrand besaß eine Gabe. Nämlich die Fähigkeit, das alltäglichste Leben durch den Charme seiner Konversation zu verzaubern. Ich bin mit ihm durch die schönsten Regionen Frankreichs gekommen, aber auch durch überaus düstere. Ob es regnete oder stürmte, selbst in einem noch so unscheinbaren, abgelegenen, ja häßlichen Dorf bestand er darauf, Ihnen diese kleine romanische Kapelle zu zeigen, die jenes wundervolle Glasfenster berge. „Sehen Sie, Robert, der Umweg hat sich gelohnt!“ Ich konnte nicht mehr! Oft geschah es, daß die Kirche scheußlich und das Fenster matt und duster war. Sein Erzähltalent machte jedoch all das wett. Er erzählte von einem vergessenen Krieg im 11. Jahrhundert, als hätte er erst kürzlich stattgefunden.

Sinnlichkeit kann auch intellektuell sein ...
Genau. Mitterrand hat die Kultur lustvoll genossen. Und er konnte einem diese Lust auch vermitteln.

War er amoralisch? Ich erinnere mich an einen Moment während eines Staatsbesuchs, als sich bei einem Empfang in der französischen Botschaft in Rumänien Beklommenheit breitmachte. Man diskutierte über die totalitären Ideologien, die Europa verwüstet hatten. Es ging um den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Er warf einen musternden Blick auf unsere kleine Gruppe: "Haben Sie Syncrétisme et Alternance von Montherlant gelesen? Nein? Sie sollten es lesen." Kennen Sie diesen Text?
Wenn ich mich recht erinnere, handelt es sich um eine Art Manifest, in dem Montherlant sich rühmte, sämtliche Ideale [idéaux] ausprobiert zu haben.

Genau. Montherlant in seinem preziösen Stil verwendet den Plural "idéals". An jenem Abend hatte Mitterrand aus dem Gedächtnis zitiert: "Wechseln wir die Ideale, wie man das Parfum wechselt, wie man je nach Tageszeit das Zimmer wechselt. (...) Da das Universum keinen Sinn hat, ist es vollkommen in Ordnung, ihm bald den einen, bald einen anderen zu geben."
Ich erkenne meinen Mitterrand wieder.

Einige der damals anwesenden Gesprächspartner fanden diese Lektion unverschämt. Die einen hatten die Unterdrückung durch die Faschisten durchlitten, die anderen die Kerker der Kommunisten, sie hatten keine groß2 Lust, die "Ideale zu wechseln" ...
Für Mitterrand war die Wahrheit stets dialektisch. Er selbst war doppelt, dreifach. Er hat mir erzählt, welch romaneskes Vergnügen es ihm bereitete, in der Résistance über mehrere falsche Identitäten verfügt zu haben. Er war allergisch gegen festgezurrte Ideen. Es war kein Zufall, daß auf dem offiziellen Präsidentschaftsporträt eine Seite aus ­Montaignes Essais aufgeschlagen lag: „Auch die Weisheit kann man übertreiben, sie bedarf somit der Mäßigung nicht minder als die Torheit.“ 20Aus irgend-
einem Reflex heraus mußte er jede konventionelle oder allzu konforme Idee bekämpfen.

Haben Sie je an der Festigkeit seiner Überzeugungen gezweifelt?
Nie.

Sie würden aber wohl zugeben, dafl er den Relativismus ziemlich weit getrieben hat. Denken Sie an seine Berliner Rede vom Mai 1995: "(...) ich wuße, welche Stärken das deutsche Volk hat, welche Tugenden, welcher Mut in ihm stecken - wenig bedeutet mir dabei seine Uniform, ja selbst die Vorstellung in den Köpfen dieser Soldaten, die in so großer Zahl gestorben sind. Sie waren tapfer."
Offensichtlich. Doch Mitterrand schloß daraus, daß die Zukunft nur im Rahmen des europäischen Projekts denkbar sei, auf das allein es ankomme. Andernfalls würde es sehr schnell zu einer Rückkehr des Nationalismus kommen. Schauen Sie sich um: Er hatte recht.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 152 erscheint Mitte März 2026.