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Cover Lettre International, Paolo Pellegrin
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LI 111, Winter 2015

Alle Blindheit der Welt

Kämpfe, Pol Art, kämpfe! – Auf der Biennale

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Imaginäre Vaterländer

„Gute Kunst ist immer politisch!“, lautete Toni Morrisons aufgebrachtete Erwiderung auf Vorwürfe, ihr Schreiben sei zu politisch. Ich möchte dem zustimmen, weil mich Kunst anzieht, die so ist wie Nadine Gordimers Romane, Shirin Neshats Videos, Arthur Millers Stücke oder Guy Tillims Fotos. Gleichzeitig bin ich geneigt zu widersprechen, weil ich auch Emily Dickinsons Lyrik liebe, Gerhard Richters abstrakte Malerei, Alice Munros Erzählungen und andere Kunst, die nicht offen politisch ist. Dann möchte ich Morrison wieder zustimmen, weil ich in den letzten drei Jahren einen unverhohlen politischen Roman geschrieben habe. Es fällt mir schwer, das so zu sagen, ohne es einzuschränken, denn dieser Roman ist auch eine Familiengeschichte und eine Meditation über das, worum es in der Kunst geht, und ein Thriller und und und ... Eine griffige Zusammenfassung kann einem komplexen Werk nicht gerecht werden. Doch ist es in unserer Zeit, in der die Dinge mit 140 Zeichen auf den Punkt gebracht werden müssen, hilfreich, wenn man für den Sinn von etwas seine eigene Kurzformel hat. So ist mein Roman also vorläufig „ein politischer Roman“. Bis vor kurzem habe ich mich gehütet, dieses Wort mit mir in Zusammenhang zu bringen: aus Angst davor, was es über mich sagen könnte (zu prätentiös) und was es von mir fordern könnte (zuviel).

Kein Wunder, daß ich mich auf der Biennale beschwingt fühlte. Durch die Ausstellungsräume zu wandern war wie die Ankunft in einem neuen Land, verbunden mit dem Gefühl, gleich dazuzugehören. Die in Enwezors Ausstellungstitel erteilte Erlaubnis, politisch zu sein, hatte eine rührende Kreativität hervorgebracht. Wenn die Kunstwerke Menschen wären, könnte ich mit fast allen befreundet sein – befreundet zumindest in dem Sinne, daß wir bedenkenlos miteinander sprechen könnten. Denn bei all unseren Unterschieden wäre klar, daß wir zum Teil dieselben Wertvorstellungen hätten, uns für dieselben Dinge interessierten und den Wunsch hätten, die Welt besser zu verstehen.

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Wovon man sprechen kann, darüber muß man nicht schweigen

Ließe die 56. Biennale sich zusammenfassen, so würde ein Wort genügen: Kapital. Enwezor sagt selbst, daß „in allen Bereichen der Erfahrung nichts heute eine größere Rolle spielt“. Mit Sicherheit spielt auf der Biennale nichts eine größere Rolle, wo die Litanei von Marx’ Kapital im Hintergrund murmelt. Lesungen aus dem Werk gibt es regelmäßig in einer eigens dafür erbauten Arena im Herzen der Giardini, aber niemand scheint länger als ein paar Minuten dazubleiben. Das macht nichts. Der Soundtrack verfolgt einen, auch wenn man ihn nicht gehört hat, denn das bloße Faktum der Lesungen ist so wirkmächtig, daß es die ganze Ausstellung durchdringt. In jeder einzelnen Arbeit hallt der mächtige Akkord des Kapitals nach, nicht zuletzt deshalb, weil die Biennale selbst das Kapital aller solcher Kunstausstellungen ist und das kapitalistische System in seinem Guten und Bösen verkörpert.

„Wie scheinheilig“, schnauben Kritiker, „den Kapitalismus aus dieser privilegierten Position zu kritisieren!“ Ihr Lieblingsbeispiel ist Isaac Julien: Der Künstler leitete die Lesungen aus dem Kapital, während eine Bootsfahrt entfernt, auf dem Canale Grande, eine große Vernissage für seine von Rolls Royce gesponserte neue, aufwendige Filminstallation Stones Against Diamonds stattfand. Solche Widersprüche stören natürlich, entsprechen aber nur, stark vergrößert, den Widersprüchen in unserem eigenen Leben. Sich auf die Ungereimtheiten anderer zu fixieren ist eine bequeme Möglichkeit, die eigenen zu negieren. Entrüstung ist ein willkommener Ersatz für Handeln. Tief in unserem Innern wissen wir das, wollen uns dem aber nicht stellen, weil es den Versuch erfordern würde, unsere eigene Doppelmoral zu verstehen; nichts aber ist schwerer zu ändern als das eigene Selbst.

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Kollaterale Heilung

Kunst kann uns die Absurdität unserer Gewißheiten vor Augen führen und uns einen Schubs geben, der uns dazu bringt, uns mit dem Zweifel anzufreunden, der, so unbequem er auch ist, uns die einzige Sicherheit bietet, auf die wir uns verlassen können: zu wissen, daß wir uns vielleicht irren.

Was macht Kunst politisch? Das Thema? Die Intention? Die Rezeption? Die Zeit? Jede Kunst kann für jede Politik vereinnahmt werden. Jede Ideologie, ob feministisch, marxistisch, freudianisch, christlich, kann auf jedes Kunstwerk angewandt werden; damit bestreiten Akademiker ihren Lebensunterhalt, und Fanatiker leben davon. Das Harmlose kann für subversiv gehalten werden, das Friedfertige Anlaß zum Ärgernis geben, das Dunkle so interpretiert werden, daß es für jemanden Sinn ergibt. Es spielt keine Rolle, wenn der Urheber solche Analysen zurückweist: Solange gezeigt werden kann, daß das Werk sie bestätigt, sind sie stichhaltig. All dem verdanken große Werke Dauer: in ihrem Kern sich gleichbleibend, aber proteisch sich erneuernd in der Vorstellung derer, die ihnen begegnen.

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Pseudopolitische Kunst

Warum geht das Wort „politisch“ Leuten auf die Nerven, vor allem, wenn es dem Wort „Kunst“ vorangeht? Es gibt Künstler, die darauf bestehen, daß ihre Arbeiten nicht politisch seien, selbst wenn diese von Krieg, Armut oder Migration handeln. Solche Verleugnungen haben vielleicht kulturelle Ursprünge. Shilpa Guptas Arbeit ist von der schwierigen Beziehung zwischen Indien und Pakistan geprägt. Die spektakuläre Ausstellung in Venedig, auf der ihre Suchscheinwerferinstallation es mir angetan hat, ist die allererste gemeinsame Präsentation der beiden Länder auf einer Biennale. Keines von ihnen ist mit einem nationalen Pavillon vertreten, und keines hat eine offizielle Veranstaltung abgehalten. Die Initiative für die Ausstellung My East is Your West kam von einer unabhängigen Stiftung. Viele der Arbeiten Guptas hier befassen sich mit der Grenze und ihren Auswirkungen. Hintergrund ist die Realität des Zauns, den Indien entlang seiner Grenze zu Pakistan errichtet: fertiggestellt, wird er die weltweit längste Sperranlage zwischen zwei Nationalstaaten sein. Dennoch bezeichnet Gupta ihre Kunst nicht als politisch, sondern als „Alltagskunst“, da die Arbeiten unmittelbare Reaktionen auf ihre täglichen Beobachtungen seien. Mir gefällt ihre alternative Bezeichnung, obwohl ihr eine unnötige Unterscheidung zwischen „politisch“ und „alltäglich“ zugrunde liegt – schließlich greifen die beiden Begriffe unwiderruflich ineinander. Wenn Gupta „politisch“ zu eng findet, dann in Wahrheit deshalb, glaube ich, weil sie, wie die meisten Künstler, Kategorisierungen generell nicht mag.

In Deutschland, wo Künstler aus vielen Bereichen eine entscheidende Rolle bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes und der nationalen Neuorientierung nach dem zweiten Weltkrieg spielten, wird politische Kunst nicht verachtet oder verdächtigt, sondern geschätzt. In Großbritannien dagegen hat das Wort „politisch“ immer noch einen negativen Klang, der nicht einfach auf den Schatten einer alten Gepflogenheit zurückgeführt werden kann, die Bedeutung des Wortes aus dem 18. Jahrhundert herzuleiten, als „politisch“ erstmals damit assoziiert wurde, „in Parteipolitik für eine Seite Partei zu ergreifen“. Was für eine traurige Verkürzung eines Wortes, dessen griechische Wurzeln noch heute seine wesentliche Bedeutung bezeichnen: „politikos“ – auf die Bürger der Polis sich beziehend.

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Pol Art ist nichts für Schwächlinge. Nichts für die, die glauben, was Picasso einmal gesagt hat: „Kunst ist dafür da, den Staub des Alltags von unseren Seelen zu waschen.“ (Mit Guernica hat Picasso, wie Künstler es dürfen, sich selbst widersprochen.) Die Pol Art von All the World’s Futures wäscht nicht den Staub des Alltags von unseren Seelen, sondern im Gegenteil: sie bombardiert uns mit dem Staub des Lebens. Sie zeigt uns die vielen Schichten dieses Staubs, unter dem so viele Seelen ersticken. Sie macht, daß wir uns schmutzig und mitschuldig fühlen, aber auch verwundert und dankbar sind – denn ohne Staub würden wir den Sonnenstrahl nicht sehen, der sich seinen Weg durch die Luft bahnt, Sonnenuntergänge wären weniger schön, der Himmel erstrahlte in einem anderen Blau. Partikel dieses Staubs dringen tief in uns ein. Sie liegen in Herz und Verstand und kribbeln, prickeln, beunruhigen. Sie sind eine notwendige Mahnung: es bedarf keiner Fackel, um die Wahrheit zu erhellen, es muß nicht erst brennen, damit wir handeln.
 

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