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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Homo berlusconensis

Zur Klassifizierung einer nicht ganz so neuen zoologischen Spezies

Vermutlich hat nicht jeder Umberto Ecos klugen Aufsatz Phänomenologie des Quizmasters (Mike Bongiorno) aus den frühen sechziger Jahren im Kopf. Ich erlaube mir daher, ein paar Sätze daraus zu zitieren, als Ausgangspunkt gewissermaßen: „Der Mensch, den die Massenmedien umwerben, ist letztlich der unter allen seinesgleichen am meisten respektierte: Man verlangt von ihm nie, etwas anderes zu werden als das, was er schon ist. Mit anderen Worten, man weckt in ihm Wünsche, die man zuvor anhand seiner Neigungen modelliert hat. Da jedoch eine der narkotisierenden Kompensationen, auf die er Anspruch hat, die Flucht in den Traum ist, hält man ihm gewöhnlich Ideale vor, denen er strebend nacheifern kann. Um ihm dabei aber jede Verantwortung abzunehmen, sorgt man dafür, daß diese Ideale de facto unerreichbar sind, so daß sich sein Streben nach ihnen in einer bloßen Projektion erschöpft und nicht in eine Reihe effektiv auf Veränderung zielender Handlungen mündet.“

Eco spricht von dem Menschen, „den die Massenmedien umwerben“,
aber er meint natürlich den Menschen, den das Fernsehen umwirbt, da eine Tageszeitung mit ihrem Schwerpunkt auf der Sprache halbe Analphabeten wohl kaum in dem Maße umgarnen kann, wie es Fernsehbilder können.

Die Strategien der Amerikaner im Vorfeld ihres Krieges gegen Irak haben eindrucksvoll gezeigt, daß Fernsehbilder in der Lage sind, jeden Menschen überall auf der Welt irrezuführen, Analphabeten ebenso wie Hochschulabsolventen mit mehreren Titeln.

Aber wenn jemand irregeführt wird, muß es logischerweise auch jemanden geben, der ihn in die Irre führt.

In der Heiligen Schrift
heißt es, Gott habe den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen. Mit demselben Recht kann man behaupten, in Italien habe ein Mensch einen Fernsehkanal ganz nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen, auch wenn das in keiner Schrift steht, sei sie nun heilig oder nicht. Der Mensch, der das Fernsehen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, war ursprünglich ein skrupelloser Geschäftsmann, der vorgab, sich an die Regeln zu halten; bekennender Katholik, auch wenn er sich später (mehrfach) scheiden ließ; ein angeblicher Liberaler, ungeheuer gewieft; ein Kommunistenhasser, reich, eher ungebildet, von mittelmäßiger Intelligenz und unterdurchschnittlicher Körpergröße. Er sah nicht gut aus, sprach Italienisch mit einem beschränkten Grundwortschatz, konnte französische und neapolitanische Schlager singen, liebte die Frauen und pflegte das Image des großen Verführers.

Anfangs zumindest besaß er tatsächlich die Kunst der Überredung und die so unbefangene wie überzeugende Eloquenz eines amerikanischen Gebrauchtwagenhändlers. In einem Land mit unverständlichen Fachjargons (dem Kauderwelsch der Juristen, Politiker, Literaten, Kunstkritiker etc.) hielt man ihn daher schnell für einen „großen Kommunikator“.

Die Formate seiner drei privaten Fernsehsender ließen denn auch jegliche Art von Kultur außen vor, auch die populäre (die Oper zum Beispiel), und überhaupt alles, was halbwegs intelligent war.

Kultur und Intelligenz sind ja Begriffe, vor denen die meisten Italiener zurückschrecken.

Statt dessen beherrschten Quizsendungen die Programme, amerikanische Comedy-Serien mit eingespieltem Gelächter, die offensichtlich für schwachsinnige Zuschauer produziert waren, primitive Spieleshows nach dem Motto „Einer wird gewinnen“, geschmacklose Varietés (wie Colpo Grosso
, dessen Erfinder heute nicht zufällig eines der wichtigsten Ministerien innehat) und vor allem die allgegenwärtigen halbnackten Frauen (Assistentinnen, Show- und Nummerngirls etc.), mit denen gewissermaßen einem Recht auf die „Flucht in den Traum“ nachgekommen wurde, um noch einmal Umberto Eco zu zitieren.

Nach jahrelangem Konsum dieses Fernsehangebots ist das kulturelle Niveau der Italiener – ohnehin nicht besonders hoch – auf einen absoluten Tiefstand gesunken, nicht zuletzt weil das schlechte Beispiel im staatlichen Fernsehen eilige Nachahmer fand.

Gleichzeitig schuf der Mann, der das Fernsehen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hatte, in kürzester Zeit Menschen, die sich virtuell und faktisch als Menschen nach seinem Bild und Gleichnis betrachten konnten, wobei er die ihm gehörenden Fernsehsender als Projektionsfläche seiner selbst nutzte.

Damit schloß sich der Kreis.

Freilich fielen seine Bemühungen bei einem Großteil dieser Menschen von vorneherein auf fruchtbaren Boden. Die Saat ging schnell auf und entwickelte sich prächtig.

Denn im Grunde genommen wurde von ihnen, wie Eco schreibt, nichts anderes verlangt, als das zu werden, was sie schon waren.

Nur konnten sie das jetzt frei und ungehindert sein und werden, am hellichten Tag; und vor allem erkannten sie jetzt ihresgleichen.

Mit den anderen jedoch – und das waren nicht wenige – vollzog sich eine grundlegende Veränderung. Die Jüngeren, also die heute etwa Dreißigjährigen, wurden in diese Kultur schon hineingeboren. Sie sind in ihr aufgewachsen und fühlen sich in ihr wohl wie Fische im Wasser, ohne zu wissen, daß sie im Wasser leben. Die Typologie des Homo berlusconensis
ist also recht vielgestaltig und nicht vollständig zu katalogisieren. Da man aber irgendwo anfangen muß, beginnen wir bei den einfachsten Typen.

(...)

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