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LI 106, Herbst 2014

Kunst und Lebenskunst

Über die Vollendung von Stücken, deren Bauplan keiner kennen kann

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Komplexität der Kunstsprachen zum Trend, und sie beeinflußt nicht nur die Schauspielkunst. Zu diesem Zeitpunkt tritt an die Stelle des klassischen Balletts (selbst an die des Balletts ohne Sujet von Balanchine) das, was den Namen contemporary dance tragen wird. Dessen Wurzeln kann man in der Schule von Dalcroze und in den Erfahrungen von Laban und Mary Wigman ausmachen; als Massenphänomen taucht er erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Parallel beginnen sich Verwandlungsprozesse durch „Komplexität“ auch in der Oper zu vollziehen, sowohl in der neuartigen Inszenierung bewährter Kunstwerke wie in der Komposition neuer Werke für die Opernbühnen selbst. Sogar der Zirkus, der „alte naive“, verwandelt sich in Europa in einen „Neuen Zirkus“ und erobert sich eine philosophische Dimension hinzu.

Eines der Grundelemente des postdramatischen Theaters ist nach Lehmann die Emanzipation des Theaters von seiner literarischen Grundlage. Erstaunlicherweise wird das Drama, von dem sich das Theater emanzipiert, separiert wieder  Teil der postdramatischen Realität.  Shakespeares Tragödien, den Komödien Molières, den spiritualistischen Dramen Calderóns, Victor Hugos romantischen Opern oder den idealistischen Dramen Ibsens gibt es Sujets, verständliche Figuren und, wenn auch schwierige, so doch erkennbare Beziehungen der Helden untereinander. Und es gibt ein paar Punkte, die dem Zuschauer zur Orientierung durch das Stück hindurch helfen. In Stücken von Heiner Müller oder Sarah Kane, ebenso wie in den Stücken von Robert Wilson oder in Inszenierungen von Jan Lauwers, finden sich solche Orientierungshilfen schon nicht mehr.

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Die meisten künstlerischen Entdeckungen ereignen sich im Theater. Da es immer wieder seine eigenen Grenzen problematisiert und immer weiter in den Raum der zeitgenössischen Kunst vorrückt, erinnert es immer öfter an eine Art spirituelle Praxis, gleichermaßen für die auf der Bühne Agierenden und die im Saal Sitzenden.

Monologizität, Visualität oder Kinomatographie, Konzentration auf die Psychophysik des Schauspielers wie bei Anatoli Wassiljew oder die absolute Gleichgültigkeit ihr gegenüber wie bei Heiner Goebbels – alles, worüber Lehmann schreibt, sind wichtige, aber keine substantiellen Elemente des neuen (postdramatischen) Theaters. Es kann so oder so sein – oder auch anders. Aber alle (sich manchmal völlig widersprüchlich beeinflussenden Elemente) sind stets Teil eines (oft auch schmerzlich sich vollziehenden) Prozesses, der die darstellenden Künste verändert und weiterentwickelt. In Rußland wird dieser zumeist als Verlust an Professionalität beschrieben: „Die können nichts, weder tanzen noch spielen, keine Rollen darstellen, die Handlung nicht transportieren, keinen Salto machen – aber klug daherreden!“ Es scheint, als wäre die Unvollkommenheit des postdramatischen Theaters Grundprinzip seiner Existenz. Doch handelt es sich um eine besondere Unvollkommenheit.

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