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Cover Lettre International 130, Mark Lammert
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
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LI 130, Herbst 2020

Reiht euch ein!

Versteinert vor dem Reich der Bilder – Wie Europa sich amerikanisiert

(…)

Ob eine Beherrschung durch das Nervenzentrum des Planeten zu diesem oder jenem Moment erfolgreich ist, erkennt man daran, daß sie von den Angeregten und den Aufgeregten der Peripherie nicht als Pflicht verinnerlicht wird, sondern als Befreiung; wenn ein exogenes Wir zum Man des Indigenen wird, markenlos, herkunftslos und zur freien Verwendung. Wenn Monsieur Macron zum Klang der Marseillaise die Hand aufs Herz legt, wenn Monsieur Mélenchon das Knie beugt, wenn Madame Hidalgo die schönste Lage von Paris den Bronzetulpen von Jeff Koons preisgibt oder wenn ein Dealer seine Richter mit einem „Euer Ehren“ beehrt, dann hat keiner von ihnen das Gefühl, irgend etwas nachzuahmen. Sie wollen den Ton treffen. Wenn das Lycée Colbert in Thionville, in der Region Grand-Est, auf Initiative des „republikanischen“ Regionalpräsidenten in „Lycée Rosa Parks“ umbenannt wird (oder ein anderes in „Lycée Angela Davis“; in Anerkennung ihrer Vorbildlichkeit natürlich), dann geschieht das zweifellos, um smart zu sein, um zu tun, was alle tun, vor allem aber, um mit der Zeit zu gehen, denn aus einer Welt ist nunmehr die Welt geworden. Eine Umbenennung nach Toussaint Louverture, Pierre Vidal-Naquet (der die Aufnahme ins Panthéon verdient hätte) oder Sonthonax (jenem Jakobiner, der 1793 die Initiative zur Abschaffung der Sklaverei ergriffen hatte) wäre für dieses Gymnasium widernatürlich gewesen (wie für ein anderes die Umbenennung nach Che Guevara). Eine Enteignung ist vollendet, wenn man den anderen für sich selbst und sich selbst für einen anderen hält. Wenn das Partikulare es schafft, für das Universelle gehalten zu werden. Wenn die Zeitungen unserer startup nation aufhören, „running“, „cluster“, „prime time“ oder tausend weitere Gassenhauer unseres alltäglichen globish kursiv zu schreiben.

(…)

Die kommende Welt
Unter dem Regime der Amerikanität wird es, wie unter den vorangegangenen Regimen, Gewinne und Verluste geben, und der Optimist wird an uns appellieren können, in jedem empfohlenen Verzicht eine Sparmaßnahme zu sehen. Man gewöhnt sich an alles. Die eigene Vergangenheit zu verlieren, wie Simone Weil sagt, ist zweifellos ärgerlich für die klassische Musik, eine Musik der Weißen, aber auch für Europa. Jenen Kontinent, der mehr als andere von der Zeit besessen ist. Für gewöhnlich definiert er sich durch den Zusammenfluß eines dreifachen Erbes – römisch, das Recht, griechisch, die Wissenschaft, und christlich, das Gewissen. Das ist eine ziemlich zweifelhafte Vorgeschichte, denn die antike Welt, tausend Jahre Geschichte, an denen man schwer zu tragen hat, war unerbittlich und voller Stolz eine Welt der Sklaverei und des Patriarchats. Es sei daran erinnert, daß der Zweck und das oberste Ziel des Code noir darin bestand, die Sklaven auf den kolonisierten Inseln zum Meßbesuch zu zwingen. Sollte man aber im Grunde nicht die Toten die Toten begraben lassen, und brauchen wir im Zeitalter von tube und house wirklich noch ein Cembalo oder ein Cello, Latein und Griechisch oder das römische Recht, wo doch das common law herrschen sollte?
     Noch deprimierender wird es sein, die eigene Zukunft zu verlieren, man sollte dem jedoch mit derselben Gelassenheit ins Auge blicken. Wo der Ursprung eine Schlinge bildet und jede Hoffnung auf Lösung des Knotens zunichte macht, wozu sollte man sich da mit dem Glück künftiger Generationen beschäftigen, wenn das Spiel, born this way, schon von Geburt an ausgespielt ist? Keine zweite Chance mehr. Das Stigma als unterdrückerischer Bourgeois war nicht unheilbar. Man konnte immer noch der Kommunistischen Partei, der Gewerkschaft CGT oder einer mosambikanischen Widerstandsgruppe beitreten. Wie aber soll man sich vom Makel „Privileg des weißen Mannes“ loskaufen? Beim Dermatologen, beim Psychoanalytiker? Und wenn ich, ein weißer männlicher Cisgender-Heterosexueller, Lust bekomme, mir die Sache und die Kämpfe meiner anders ausgestatteten Brüder im Menschengeschlecht zu Herzen zu nehmen, muß ich Angst haben, daß man mir vorwirft, mir ihr Leid anzueignen, das mich nichts angeht, mit dem einzigen Ziel, in völliger Inauthentizität meine eigene pole position zu stärken. Wir sollten aber gut überlegen: Ist es angesichts der vernichtenden Auswirkungen des Fortschrittsglaubens und der Menschenleben, welche die säkularen Messianismen kosteten, nicht heilsamer, auf den Sinn der Geschichte und auf fatale Ideologien zu verzichten? Uns an das Management dessen zu halten, was ist, und uns nicht an das vergebliche Streben nach dem zu klammern, was sein sollte oder könnte?

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024