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Cover Lettre International 71, Mark Lammert
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LI 71, Winter 2005

Gefährliche Klassen

"Das ist erst der Anfang“, schrieb Alessandro Dal Lago vor kurzem in der italienischen Tageszeitung Il manifesto. Es geht ganz Europa an. Es ist ein erster Warnruf. In den deprimierenden Vorstädten und in einigen innerstädtischen Gebieten Frankreichs haben sich zornige, hoffnungslose französische Männer an öffentlichem und privatem Eigentum vergangen. Sie haben Tausende Autos verbrannt, Schulen und Kindergärten angezündet und ihre Nachbarn terrorisiert. Sie haben der öffentlichen Meinung und den wohlmeinenden, universalistisch gesinnten „einheimischen“ Franzosen Angst und Schrecken eingejagt. Ausgelöst – wenn auch keineswegs verursacht – wurden die Krawalle durch den Unfalltod zweier Jugendlicher, die wahrscheinlich auf der Flucht vor der Polizei waren. Im gängigen protektionistischen Diskurs Frankreichs wird die Entfesselung der Gewalt zwangsläufig als irrational und blindwütig wahrgenommen. Damit verbunden ist die Weigerung, den in ihr enthaltenen politischen Kern zu erfassen. Wenn man wie ich aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt, dann wekken diese Ereignisse und die derzeitige Lage in Frankreich bei aller Wahrung der Verhältnismäßigkeit unangenehme Erinnerungen an die jüngste Geschichte Südosteuropas.

Das „unvorhergesehene“ und plötzliche Hereinbrechen der aufrührerischen Figuren und ihr direktes, gewalttätiges Handeln jenseits aller sprachlichen Vermittlung kann in der französischen Öffentlichkeit nicht als politische Forderung verstanden werden. Es ist das wilde Verlangen, die bestehende Hegemonie zu stürzen und sie durch eine neue, gerechte Ordnung zu ersetzen. Die Krawalle gingen von keinen ethnischen oder sonstigen Gemeinschaften aus und hatten keine Anführer. Keinerlei politisches Projekt ist aus ihnen hervorgegangen, und es gibt auch niemanden im politischen Spektrum, der die Randalierer vertritt. Die Herrschenden, die, durchaus absehbar, inzwischen versucht haben, mit dem einen oder anderen Imam ins Gespräch zu kommen, haben bisher Glück gehabt. Aber zwischen Glückhaben und klug Handeln gibt es einen großen Unterschied. Vor allem sollten wir uns von niemandem weismachen lassen, das Problem der Vorstadtghettos habe nichts mit Politik oder mit der Klassengesellschaft zu tun. In der Debatte darüber, was eigentlich geschehen ist und was man dagegen unternehmen sollte, konnten weder die Rechte noch die Linke politische Lösungen anbieten. Und bevor sie zu irgendeinem Ergebnis kamen, waren die Krawalle vorbei.

Wenn sie nicht bald von neuem ausbrechen, wird Frankreich seine Vorstädte wieder vergessen. Eine Welle der Repression wird Frankreich überziehen. Dieser Drang zur Unterdrückung ist überwältigend und unübersehbar. Er eröffnet dem französischen Innenminister Nicolas Sarkozy ungeahnte Möglichkeiten, sich rechts von Chirac und Villepin – die keine Alternativen anzubieten haben – für die Präsidentenwahlen 2007 in Stellung zu bringen. Sarkozy wird für einen Rechtsruck quer durch das gesamte politische Spektrum sorgen, und er wird in entscheidenden Punkten der extremen Rechten entgegenkommen, deren politische Forderungen er gerade umsetzt. Dazu kommt eine Art neuer Kolonialpolitik, die bei den Betroffenen Verbitterung erzeugt. Die französische Linke ist angesichts der Ereignisse so gut wie verstummt. Auf der anderen Seite scheinen die Krawalle alle republikanischen, nationalistischen und ausländerfeindlichen Stimmungen der Nation auf einen Nenner gebracht zu haben.

Daß die koloniale Rechtsprechung nie abgeschafft wurde, erfuhren die Franzosen erst, als die Regierung ein Notstandsgesetz aus dem Jahr 1955 reaktivierte. Überraschend war das nicht, denn seit der gefühlten Amputation durch die algerische Unabhängigkeit hat es im Land keine umfassende Debatte über ein neues gemeinsames soziales und politisches Projekt für die postkoloniale Ära gegeben. So entsteht der Eindruck, daß Frankreich die Entkolonialisierung noch bevorsteht – und dem übrigen Europa auch. Noch immer tragen die großen Boulevards von Paris Namen der Generäle der Kolonialzeit, und erst vor kürzlich wurden die Geschichtslehrer aufgefordert, die „positiven Aspekte der Kolonisation“ stärker hervorzuheben. Obwohl die Unruhen zu Ende sind, ist die Geltung des Notstandsgesetzes um drei Monate verlängert worden. Dabei kam dieses Gesetz in Frankreich nicht einmal während des Algerienkrieges zur Anwendung, und es war seither nur einmal in Kraft, nämlich 1984 in Neukaledonien, fernab der europäischen „Metropole“. Nun werden im Land selbst Ausnahmezonen geschaffen und neue Grenzen gezogen.

Der Umgang der Franzosen mit ihren „Problemen“ findet seine Entsprechung in der gesamteuropäischen Tendenz, die innere Einheit durch Abschottung nach außen zu fördern. Europa weigert sich ebenso wie Frankreich, seine historische, koloniale und sonstige Verantwortung wahrzunehmen: Dafür stehen Ceuta und Melilla, Lampedusa, all die hoffnungsvollen Einwanderer, die im Mittelmeer ertrinken, die ständigen Abschiebungen, die Aufenthalts- beziehungsweise Gefangenenlager im Verborgenen für Menschen ohne dokumentierte Identität sowie der Export europäischer Grenzen in Nachbarstaaten, die als Pufferzonen für uns die Polizeiarbeit erledigen als Preis dafür, daß sie an Europa teilhaben dürfen. Aber der Umgang mit den Randalierern in Frankreich hat im weiteren Sinn auch mit Guantánamo zu tun: Hier wie dort geht es um verfassungswidrige Ausnahmezustände in großem Maßstab, die normale politische Prozesse außer Kraft setzen. Ohne Zweifel besteht eine Kontinuität zwischen dem Ausnahmestatus der Kolonien (Kolonien befinden sich definitionsgemäß außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung) und der Ausweitung solcher Ausnahmen im Interesse der inneren oder auch weltweiten „Sicherheit“.

Setzte man dagegen bei den Ursachen der Krawalle an, so würde das bestenfalls langfristig Erfolg versprechen. Und natürlich galt es zuallererst, dem Chaos Einhalt zu gebieten. Also wurden Polizisten in beeindruckender Zahl entsandt, und die Fernsehzuschauer waren Zeugen einer Brutalität, die über das in Friedenszeiten akzeptierte Maß hinausging. Ein Polizist kam wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung in Haft, wurde aber wenig später auf Druck der Polizeigewerkschaft freigelassen. Die Maßnahmen kamen dem Versuch gleich, ein Feuer löschen, ohne vorher den Gashahn zuzudrehen.

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