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Cover Lettre International 95, Maki Na Kamura
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LI 95, Winter 2011

Griechenland und Europa

Im Knäuel der Krisenreaktionskräfte – Vorurteile und Richtigstellungen

(Auszug: 8.900 Zeichen von 48.565 Zeichen)

(…)
Frank Berberich: Wie wurde Griechenland durch seine veränderte Rolle in der internationalen Arbeitsteilung positiv oder negativ affiziert? Wie haben sich Europäisierung, Globalisierung und die Entwicklung des World Wide Web auf seine ökonomische Positionsbestimmung ausgewirkt?

Antonis Liakos: (…) Wir befinden uns in einer Krise, die 2008 in den USA begonnen hat. Eine weltweite Krise. Diese Krise weist jedoch im Vergleich zu den vorhergehenden Krisen Eigentümlichkeiten auf. Sie ist nicht nur der Aufblähung des Finanz- und Kreditwesens geschuldet, das heißt einer gewaltigen Blase von Werten. Diese Krise befindet sich an der Spitze von drei sich gegenseitig überlappenden Krisen. Die eine betrifft eine neue Art, mit der Wirtschaft und der Gesellschaft umzugehen, die Rolle des Staates usw. Es geht um ein neues Politikmodell, das jenes vom Keynesianismus und vom Vorsorgestaat geprägte ablöst. Die kollektiven Ausgaben der Gesellschaft steigen ohne eine entsprechende Verbesserung und Vermehrung von Dienstleistungen gegenüber den Bürgern, wobei den Bürgern auch noch Kostensteigerungen auferlegt werden. Schlechtere, weniger und teurere Dienstleistungen.

Die zweite Krise betrifft die Verschiebung des Schwerpunkts der Welt vom Westen nach Osten, von den alten zu den neuen Märkten. Auf diesen, wie zum Beispiel China und Indien, sind die Arbeitskosten sehr niedrig; daraus resultiert ein starker Druck auf den Westen, seine Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, indem das Lebenshaltungsniveau der arbeitenden Schichten gesenkt wird. Die Länder, in denen das am intensivsten geschieht, sind die Länder Südeuropas. Die berüchtigten von der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds geforderten Reformen bedeuten ein Social Engineering, welches das Lebenshaltungsniveau der Gesellschaften sowie das Niveau ihrer Funktionsweisen brutal absenken will. Die Krise ist ein Instrument zur Veränderung der Gesellschaften.

Die dritte Welle, auf der die Krise reitet, ist das Verhältnis zwischen Ökonomie und Umwelt. Die vorhandenen Energielagerstätten, welche die industrielle Entwicklung begünstigt haben, schrumpfen in absehbarer Zeit zusammen, die Energiekosten steigen ebenso wie die Kosten für die Schäden an der Umwelt. Der Treibhauseffekt hat in einigen Ländern die Landwirtschaft um bis zu zwanzig Prozent schrumpfen lassen und Migrationsströme ausgelöst, mit all ihren Konsequenzen. Das ist das Substrat der Krise. Wenn wir das nicht als globales Phänomen begreifen, betreiben wir, fürchte ich, Nabelschau. Wir befinden uns in einer globalen Epoche, begreifen die Krise jedoch, als beurteilten wir den Nachbarn, der in seinem Garten Müll lagert. Eine sehr provinzielle Haltung.

Verletzt das Empfinden einer solch starken Abhängigkeit von Europa das griechische Selbstbewußtsein und den griechischen Stolz?

Was bedeutet „Abhängigkeit von Europa“? Würden Sie die Frage in gleicher Weise an Deutschland stellen? Sind vielleicht einige Staaten der Ansicht, daß sie Europa darstellen und andere nicht? Und wer beurteilt das Europäertum? Dies ist eine alte Debatte. Europa sind nur die Staaten von West- und Zentraleuropa, oder gehören vielleicht Süd- und Ostmitteleuropa auch dazu? Die Debatte führt uns zu einer Art „Regel“, was Europa ist und was nicht. Eine alte Debatte, deren Endpunkt ein rassistisches Europa der blonden Arier war mit den bekannten tragischen Resultaten. Sobald wir aber meinen, daß Europa die Gesamtheit der Erfahrungen seiner Bewohner umfaßt, daß es gleichzeitig das Europa der Aufklärung und das von Auschwitz ist, welche Bedeutung soll dann diese Frage haben? Anders als in Zeiten des Kalten Krieges gibt es heute kein politisches Bewußtsein alternativ zum Europäertum. Die europäische Identität umfaßt auch die Türken in Deutschland, die Maghrebiner in Frankreich, die Pakistanis in Großbritannien und natürlich die Griechen, Bulgaren, Rumänen usw. Wir müssen ferner zwischen den politischen und den kulturellen Grenzen Europas unterscheiden. Die europäische Identität ist vielfältig und vielschichtig. Zu ihr gehören selbstverständlich Van Rompuy und die Brüsseler Eurokraten, aber auch die jungen Globalisierungsgegner sowie die neuen sozialen Bewegungen, die gegen die Sparmaßnahmen protestieren, die in ganz Europa oktroyiert werden. Meine Antwort lautet, daß die Einwohner des geographischen Europa heute nichts anderes sein können als Europäer. Ob jemand stolz auf diese Identität ist oder nicht, hängt davon ab, ob er die europäische Geschichte kritisch sieht oder an die herrschenden Mythen glaubt, welche die europäische Geschichte verschönern, wobei sie deren unangenehme und dunkle Seiten verbergen.

(…)

Braucht Griechenland nicht doch eine Modernisierung und Reformen – oder hat Griechenland nur in zugespitzter Form mehr oder weniger dieselben Probleme wie die meisten Mitgliedsstaaten der Eurozone? Und welche Grundzüge müßte eine solche Modernisierung denn aufweisen?

Zunächst sollten wir definieren, was wir mit den Begriffen Modernisierung und Reform meinen. Die gängige Bedeutung ist die Anpassung an den Paradigmenwechsel (neoliberale Wirtschaft, new public management, Globalisierung des Finanz- und Kreditwesens, Umsturz der Beziehung Staat – Märkte). In diesem Sinn werden Sie vernehmen, daß auch in Frankreich und sogar in den USA von Modernisierung und Reform die Rede ist. Diese – ständig wechselnden – Reformen wurden in den letzten zwei Jahrzehnten den meisten Staaten oder allen Staaten zum größten Teil auferlegt. Die große Frage der modernen Krise ist nun folgende: Ist die Krise Ergebnis der nicht vollständigen Umsetzung dieser Reformen oder eben gerade dieser Reformen?

Offensichtlich sind in Griechenland Reformen notwendig. Wir haben ein ungerechtes Steuersystem, das die Reichen zu Lasten der Armen, die liberalen Berufe gegenüber Lohnempfängern und Rentnern begünstigt, das Steuerflüchtlinge im Verhältnis zu denen begünstigt, die konsequent ihre Steuern bezahlen. Steuerbefreiung und Steuerhinterziehung haben in Griechenland monströse Ausmaße angenommen. Wir haben ein außerordentlich langsames und teures System der Rechtspflege. In den staatlichen Behörden, im Erziehungs- und Gesundheitswesen sind funktionelle Reformen erforderlich. Gewiß tiefgehende Reformen,  aber mit Vernunft, mit Zielen, mit Werten. Was zur Zeit geschieht ist eine generelle Kürzung im Namen der staatlichen Sparmaßnahmen. Ein Beispiel: Das Nationale Audiovisuelle Archiv, die moderne Ausgabe einer Nationalbibliothek, wird abgeschafft. Welcher Träger wird jetzt das audiovisuelle Material sammeln, das die Gesellschaft produziert, wird seinen Erhalt gewährleisten, seine Dokumentation, seine Erschließung?

Es ist, als würde die Nationalbibliothek des digitalen Zeitalters abgeschafft. Der Grund? Die Regierung möchte den Gebäudekomplex, in dem das Archiv untergebracht ist, verkaufen. So einfach. Was die Nationalbibliothek angeht, so wird sie nur gerettet, weil sich die Niarchos-Stiftung ihrer angenommen hat. Die griechischen Reeder bezahlen keine Steuern, damit sie große Geschenke machen können! Bald wird Griechenland einer ausgebombten Landschaft gleichen mit einigen Wohlstandsinseln, die nicht an der griechischen Volkswirtschaft teilhaben, sondern an den internationalen Kapitalströmen, die durch das Land fließen werden. All dies geschieht mit dem Segen von Frau Merkel, der Europäischen Zentralbank, des IWF und der EU-Kommission, all jener, die keine Gelegenheit versäumen, den Griechen Lektionen in Sachen Zivilisation zu erteilen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.