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Cover Lettre International 50, Jörg Immendorff
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Inhaltsverzeichnis

LI 50, Herbst 2000

Die große deutsche Illusion

Zehn Jahre Einheitspolitik - zehn Jahre ökonomische Täuschung

Aufklärung und Solidarität sind Schwestern. Wer nicht weiß oder wissen will, was war, was ist und werden kann, wird manipuliert oder manipuliert selber. Mit medialen Inszenierungen von Erfolgen ist nichts zu gewinnen. Die Probleme bleiben und das Risiko, daß die Neuen Länder zum neuen Mezzogiorno werden. Denn: Mager sind die Ergebnisse, düster die Aussichten. Im zehnten Jahr der Vereinigung sind immer noch 18 Prozent der Ostdeutschen arbeitslos. Die Wirtschaft in den Neuen Ländern erzeugt nur zwei Drittel der Ausgaben für Konsum, Investitionen und Staatsverbrauch. Dieses Leistungsdefizit summiert sich auf 200 Milliarden, alle Jahre wieder. Und muß von außen, wesentlich von der ehemaligen Bundesrepublik ausgeglichen werden, alle Jahre wieder. Auch nach der Einführung der D-Mark wanderten in keinem Jahr weniger als 163.000 (1994) Menschen aus den Neuen Ländern und Ostberlin ab. Im vergangenen Jahr verließen erneut 199.000 Männer, Frauen und Kinder die ehemalige DDR. Der Wanderungssaldo, die Differenz zwischen Abwanderern und Zuwanderern ging in jedem Jahr zu Lasten der ehemaligen DDR aus. Er hat sich seit 1997 versiebenfacht. Haben Politiker aller damaligen Fraktionen im Bundestag 1990 nicht die Illusion verbreitet, die D-Mark werde die Abwanderung stoppen? Inzwischen sind 1.300 Milliarden D-Mark netto von West nach Ost geflossen. Die Berliner Regierung kündigt die Fortsetzung des Solidarpakts für das Jahr 2005 an, statt die Alarmzeichen aufzunehmen und jetzt zu handeln. Die Wirtschaft in den Neuen Ländern ist im Jahr zehn der Vereinigung insgesamt nicht wettbewerbsfähig. Wie auch sollte sie in zehn Jahren ein Produktivitätsniveau erreichen können, zu dem die alte Bundesrepublik fünfzig Jahre gebraucht hat? Wie hätten sich die Einkommen und die Lebensverhältnisse in so kurzer Zeit angleichen können? Die Akteure von 1990 wußten, was sie taten. Und sie wußten wozu: Wolfgang Schäuble bekannte bereits 1991 hinter dem Buchtitel: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte: "Es war Lothar de Maizière genauso klar wie Tietmeyer ... der die eigentlichen Verhandlungen führte ... und mir, daß mit der Einführung der Westwährung die DDR-Betriebe schlagartig nicht mehr konkurrenzfähig sein würden. Wir konnten uns auch ausmalen, in welch dramatischer Weise dieser Eingriff sichtbar würde." Nichts also mit der umlaufenden Legende, man habe nicht wissen können, was man tat, alles sei Neuland gewesen. Wer wissen wollte, konnte wissen. Warum also der dramatische Griff nach der D-Mark? Dazu Schäuble: "Mit dem Anliegen der Einheit würden wir die Wahlen gewinnen - eine Ansicht, die auch Helmut Kohl teilte, Heiner Geißler aber, so im CDU-Bundesvorstand, sehr besorgt in Frage stellte." Intern wurden die Risiken also diskutiert. Nicht nur in der CDU, auch in der SPD, in der Oskar Lafontaine, 1990 Kanzlerkandidat, ökonomische Vernunft anmahnte - vergeblich. Fürs Wahlvolk dagegen wurden "blühende Landschaften" gemalt. Was politisch richtig sei, könne ökonomisch nicht falsch sein, schrieben tapfere Generalisten in die stimmungsmachenden Medien. Und heute, im Vorfeld der Diskussion um Inhalt und Ausmaß der unabweisbaren Neuauflage des Solidarpaktes meinen manche, man könne die Transfers von West nach Ost einschränken. Sparen, Schulden vorzeitig tilgen sei problemadäquat, und dennoch würden die Neuen Länder aufholen. Wird jedoch der Solidarpakt II ebenso beifallheischend inszeniert wie der erste, dann ist der Marsch in den Mezzogiorno vorgezeichnet. Wer will, daß die neuen Länder noch ein Chance bekommen, muß mehr tun, mehr zahlen - , und zugleich erheblich mehr ökonomische Disziplin einfordern. Damit sich die Menschen in den Neuen Ländern nach weiteren zehn Jahren selbst erhalten können. Wer jetzt nicht aufklärt, wer jetzt Optimismus nur inszeniert, stärkt die - wesentlich infolge der Täuschung von 1990 - zur Partei der Ostdeutschen mutierte PDS oder ostdeutsche Abspaltungen von den beiden großen Volksparteien - und düngt Rechtradikales. "Es ist eine Wertungsfrage, ob in dem vorerst weiter bestehenden Rückstand ein Scheitern der Transformation zu sehen ist", windet sich Rüdiger Pohl, Präsident des auf die Neuen Länder spezialisierten Halleschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in seiner soeben erschienen Bilanz: Die unvollendete Transformation. Weniger belletristisch wäre es, das Gebräu aus missionarischem Marktradikalismus, leichtfertiger Überforderung der sozialen Sicherungssysteme und schierem Willen zur Macht als den teuersten Pfusch der jüngeren Wirtschaftsgeschichte zu bewerten. Was ist zu tun? Hat die Transformation noch eine Chance?

Umstände 1990, Zustände 2000

Drei vom Bundeswirtschaftsminister beauftragte Institute (das Berliner DIW, das Kieler Institut für Weltwirtschaft und das Hallesche Institut für Wirtschaftsforschung) haben vor einem Jahr ihren letzten von 19 Berichten über "Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsfortschritte in Ostdeutschland" veröffentlicht. Resümee: "Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den Neuen Ländern ist nur etwas mehr als halb so groß wie in Westdeutschland", die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Osten verharrt seit 1995 in einer Phase "einer neuerlichen Ermüdung, die bis zur Gegenwart reicht". Der Rückstand gegenüber Westdeutschland schrumpft längst nicht mehr, er wird wieder größer. Um 18 Prozent der Ostdeutschen sind arbeitslos. Wobei seit 1989 zwei Millionen Ostdeutsche weniger auf dem Arbeitsmarkt sind. Nach neuesten Untersuchungen der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institute gibt es 1,5 Millionen Arbeitsplätze zu wenig. Im Vergleich zu den alten fehlen in den Neuen Ländern Infrastrukturinvestitionen der öffentlichen Hand in Höhe von 300 und 500 Milliarden D- Mark. Schlechtere Straßen beispielsweise führen zu längeren und kostenträchtigeren Transporten, verfallende Stadtviertel schrecken Unternehmen ab. Es bestehen massive Wettbewerbsnachteile für Unternehmen. Die Kapitalausstattung der Arbeitsplätze, die Kapitalintensität, erreicht bestenfalls drei Viertel des westdeutschen Durchschnitts. Wie wird man im Kapitalismus wettbewerbsfähig ohne Kapital?

Von Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft insgesamt kann keine Rede sein, solange die Produktivität hinter der Westdeutschlands zurückhängt. Das Lohnniveau ist der Produktivität weit vorausgeeilt. Um aufzuholen, müßte die Wirtschaft in den Neuen Ländern insgesamt Marktanteile gewinnen. Ostdeutschland gibt für Konsum, Staatsverbrauch und Investitionen 200 Milliarden mehr aus, als mit der heimischen Wertschöpfung geschaffen werden. Nichts spricht dafür, daß dieses Defizit bei Fortsetzung der Politik kleiner wird.

Alle Jahre 200 Milliarden D-Mark, genauer: Ostdeutschland hat ein strukturelles "Leistungsbilanzdefizit" in Höhe eines Drittels seiner gegenwärtigen Güterproduktion. Hätten die Neuen Länder einschließlich Ostberlin eine eigene Währung, so wäre diese bei Wechselkursen, die der realen Wirtschaftskraft folgen würden, zwei Drittel der D-Mark wert. Im aktuellen Spielcasino der Devisenhändler könnten es sogar nur Pfennige werden, sobald das Ausland Kredite zum Ausgleich des Defizits verweigern sollte.Wäre Ostdeutschland ein eigenständiger Staat, stünde er wegen dieses chronischen Leistungsbilanzdefizits schon unter Kuratel des Internationalen Währungsfonds. Die Berliner Regierung aber meint, sie könne sich für einen Solidarpakt II bis 2005, bis nach den nächsten Bundestagswahlen, Zeit lassen. Der Bundeskanzler redet sich und anderen ein, die "Hälfte der Strecke" sei zurückgelegt. Heißt das Endziel der Transformation statt gegenwärtig 18 am Ende 9 Prozent Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland?

Fast drei Viertel des 200-Milliarden-Defizits werden vom Steuer- und Beitragszahler aufgebracht, gut ein Viertel ist privater Kapitalimport. Soll sich das Land nach und nach selbst ernähren können, dann muß der private Kapitalimport steigen, ehe die staatlichen Transfers sinken können. Nur soweit es gelingt, mehr Einkommen über den Verkauf von Waren und Dienstleistungen zu erzielen, kann Ostdeutschland sein "Leistungsbilanzdefizit" abbauen. Was jetzt nicht getan wird, um höhere Anreize für privaten Kapitalimport nach Ostdeutschland zu schaffen, verzögert die Schaffung von Arbeitsplätzen. Und kostet Steuer- und Beitragszahlern in den nächsten zehn Jahren viel Geld.

Von 1991 bis 2000 haben der Bund, die westdeutschen Länder, die Sozialversicherungen und die EU über 1.300 Milliarden D-Mark netto zum Ausgleich dieses "Leistungsbilanzdefizits" nach Ostdeutschland transferiert. Netto, das heißt nach Abzug der ostdeutschen Steuerzahlungen an den Bundeshaushalt und der von Ostdeutschen geleisteten Beiträge zu Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Dies bedeutet etwa 3,5 Prozent des Sozialprodukts unseres Landes, alle Jahre wieder. Dramatischer ausgedrückt: Alle nominalen Zuwächse in Westdeutschland flossen - bei einem durchschnittlichen realen Wachstum von nur 2 Prozent und 1,5 Prozent Preissteigerungen - mittels Steuern, Abgaben und Kreditaufnahme in die Neuen Länder (einschließlich Ostberlin). Und dies seit zehn Jahren. Aber der Prozeß der Transformation stockt seit 1995. Also ist handeln angesagt, nicht warten bis 2005. Die Neuen Länder sind selbstgewählte Chefsache des Bundeskanzlers. Eigentlich zuständig wäre der Bundesminister für Wirtschaft. Die vom Kabinett Kohl in Bonn entschiedene Politik verfehlt seit Jahren deutlich erkennbar das Ziel: Wenig freilich tut sich in der Berliner Regierung. Geld versickert in konsumtiven Transferleistungen. Die Ausrüstungsinvestitionen bleiben seit 1997 hinter denjenigen in den alten Ländern zurück. Die Arbeitslosen bleiben arbeitslos.

1.300 Milliarden, ist das viel? Für 1.300.000.000.000 D-Mark kann man fast 52 Millionen Autos (so viele sind gegenwärtig in ganz Deutschland zugelassen) zu 25.000 D-Mark pro Stück kaufen. Oder 2,6 Millionen Eigenheime à 500.000 Mark. Dies ist viel, wenn man sich in die Lage einer westdeutschen Durchschnittsfamilie versetzt. 25.000 DM kann sie in zehn Jahren sparen - bestenfalls. Für die Altersvorsorge, für die Ausbildung der Jungen, für die Hypothek, fürs neue Auto.

1,3 Billionen D-Mark geben die Nato-Staaten alle 18 Monate für Waffen und Soldaten aus. Gemessen daran, daß ein alles verwüstender Krieg in Deutschland und Mitteleuropa höchst unwahrscheinlich geworden ist, sind 1,3 Billionen nicht zuviel. Und was wäre ein angemessener Preis für die persönliche und politische Freiheit der Ostdeutschen? Freiheit und Gerechtigkeit haben keine Marktpreise, allenfalls für Neoliberale, die um den Markt tanzen.Ökonomisch höchst relevant aber ist die Frage: Wurde das Geld der Steuer- und Beitragszahler effizient eingesetzt? Auch Ostdeutsche zahlen Solidarbeitrag zur Lohnsteuer, auch ostdeutsche Steuerzahler zahlen Zinsen für aufgenommene Staatskredite. Sie wollen - ebenso wie die Westdeutschen - wissen, ob ihr Geld inzwischen dazu geführt hat, daß die Empfänger sich zunehmend selbst, ohne Transfers ernähren können. Die Antwort lautet eindeutig nein. Zwar sind in den Neuen Ländern Inseln der Produktivität entstanden, viele Städte und Dörfer sehen aus wie in Westdeutschland, Umwelt und Infrastruktur haben sich in Riesenschritten verbessert. Aber das Land kann sich bei weitem nicht selbst ernähren. Und dies bedeutet viel zu wenig für 1,3 Billionen D-Mark.

Karl Schiller trieb die ökonomische Herausforderung von Vereinigung und Transformation seit 1989 um. In seinem letzten, 1993 geschriebenen Buch (Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft, Berlin, 1994) hat der bisher einzige sozialdemokratische Bundeswirtschaftsminister von unbestrittenem Rang drei mögliche Pfade der Entwicklung unterschieden. Einen idealen Weg der "expansiven Integration" der ostdeutschen Wirtschaft, eine "explosive Ausuferung mit inflationären Zügen" oder eine "Implosion des Prozesses zum deutschen Mezziogiorno".

Genau diese Rückentwicklung "könnte eintreten, wenn die privaten industriellen Investitionen im Osten zum Erliegen kämen, wobei die verminderten öffentlichen Transferzahlungen fortlaufen würden, sich aber weiterhin als Leistungen für den Konsum und für öffentliche Anlagen erweisen würden. Die expansive Drift des Prozesses würde erlahmen", mahnte Schiller. Und er befürchtete, eine permanente Alimentierung des Ostens würde sich mehr und mehr "in einer Deformation der Gesellschaft niederschlagen. Eine große subventionierte Reservearmee von Arbeitskräften im Wartestand jeglicher Art wäre das Gegenteil einer wirklichen Integration ... Das Ganze wäre eine moderne, deutsche Variante des Mezzogiorno." Er nahm damit Bezug auf eine Veröffentlichung des Autors in der Zeit vom 17. August 1990 (Claus Noé: Mark für Markt, Mark für Macht, Die Republik hat sich übernommen. Bonn, Berlin 1991).

Fehler, Schutzbehauptungen

Alle Stufenpläne der ökonomischen Integration der ehemaligen DDR in die offenen Marktwirtschaften der westlichen Welt wurden 1990 verworfen zugunsten einer politischen Gewaltkur. Bei diesem Wagnis wäre aber eine viel massivere wirtschaftspolitische Flankierung des Schocks unabdingbar gewesen, wenn sie auch ökonomisch hätte gelingen sollen. Mit innerstaatlichen Instrumenten hätte man die Betriebe in der jungen, nicht wettbewerbsfähigen und untrainierten Marktwirtschaft der Neuen Länder gegen die übermächtige Konkurrenz schützen müssen. Befristet und mit den gleichen Mitteln, die bis dato jedem Beitrittskandidaten zu Europäischen Union gewährt wurden, Ländern mit mehr oder minder entwickelten Marktwirtschaften wie Portugal, Griechenland, Spanien.

In Brüssel verfing sich die Regierung Kohl in den Folgen nationaler Verbalerotik der Regierung Adenauer. Diese hatte in den fünfziger Jahren, bei den Verhandlungen um die Römischen Verträge, darauf bestanden, daß das Gebiet der ehemaligen DDR, die "Sowjetische Besatzungszone", um des Bonner "Alleinvertretungsanspruchs" willen zum Gebiet der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören müsse. Statt 1990 einzugestehen, daß dieser Formalismus jener Zeit jeglicher wirtschaftlicher Grundlage entbehrte, nahm die Regierung Kohl hin, daß das bis dato einmalige und gravierende Problem der Transformation einer vom Weltmarkt fast völlig abgeschotteten Kommandowirtschaft in eine offene Marktwirtschaft einfach beiseite geschoben wurde. Sie versuchte nicht einmal, für diese geschockte DDR-Wirtschaft die üblichen Übergangsphasen des Beitritts von entwickelten Marktwirtschaften zur EU ernsthaft zu verhandeln.

Ohne einen solchen "Außenschutz" hatte das zu transformierende Ostdeutschland keine wirkliche Chance. Statt einer Flankierung wurden den Betrieben die Zwangsschulden, die ihnen die DDR-Planer meist willkürlich eingebucht hatten, in D-Mark aufgebrummt, und die neuen Investoren, soweit es welche gab, wurden durch den Grundsatz "Rückgabe des Eigentums vor Entschädigung" in den Wartestand versetzt. Kein Mensch, der seinem Geld nicht gram ist, stellt Fabriken auf Grundstücke, die ein anderer zurückfordern kann.

Außenschutz, das hätte 1990 konkret bedeutet, mehrere Jahre zunächst keine Mehrwertsteuer für Wertschöpfungsprozesse in Ostdeutschland zu erheben; dies hätte wie ein Schutzzoll in der Übergangsphase gewirkt. Und die Übertragung der im internationalen Handel üblichen Vereinbarung, bei öffentlichen Aufträgen aus Ostdeutschland sicherzustellen, daß die betreffenden Produkte zunehmend im Land erzeugt werden (local content), hätte dieselben Wirkungen entfaltet wie gängige Kontingentregelungen im freien Welthandel. Beispielsweise hätten westdeutsche Unternehmen, die das Telefonnetz der ehemaligen DDR von Grund auf erneuerten, nach einer Anlaufzeit einen stark steigenden Anteil in den Neuen Ländern produzieren müssen. Um den unerwartet lukrativen Auftrag zu bekommen, wären sie nicht darum herumgekommen, Betriebsstätten und Arbeitskräfte aus dem Bereich des Treuhandvermögens zu nutzen. So wäre ein Käufermarkt entstanden, Kunden bei der Treuhand. Also Umstrukturierung statt Zerschlagung und Auflösung.

Aber die Wirtschaftspolitik 1990 tat so, als ob es sich bei der Transformation der ohnehin schwachen, durch den Aufwertungsschock und den schlagartigen Wegfall der Zoll- und Kontingentmauern, die die DDR-Staatswirtschaft vor Wettbewerb hermetisch abgeriegelt hatten, um eine Art größeres Zonenrandgebiet handle.

Aber nicht einmal die für das Zonenrandgebiet über Jahre üblichen Fördersätze wurden den Neuen Ländern dauerhaft gewährt, und die seinerzeitige Bundesregierung übersah geflissentlich den Zeitbedarf: Mit erheblichen Investitionshilfen - insbesondere steuerfreien Investitionszulagen, Zuschüssen aus dem Haushalt und erheblich zinsverbilligten Krediten für Private und Kommunen - hatte es da gut zwanzig Jahre gebraucht, bis die Abwanderung aus dem 40 Kilometer breiten Streifen von Flensburg bis Passau halbwegs gestoppt war. Und im Zonenrandgebiet galten von vornherein Marktwirtschaft und D-Mark.

Karl Schiller schrieb 1990: "Wäre ich zwanzig Jahre jünger, ich würde mir zutrauen, nach Brüssel zur EG-Kommission zu ziehen und die Erlaubnis durchzuboxen, die Mehrwertsteuer für Produkte aus den Neuen Ländern eine Zeitlang auf Null zu setzen. Was aber sehen wir? Staatlich alimentierte Beschäftigungsgesellschaften, subventioniert durch die Arbeitsämter - das führt zum Arbeitsamtsozialismus, nicht zur Privatrechtsgesellschaft, wie wir sie drüben brauchen." (FAZ Magazin, Heft 602, 1990) Alle Mühen, im neoliberalen Mainstream schwimmender "Angebotspolitik" vor Augen zu führen, daß diese Einseitigkeit dem Problem nicht gerecht werden konnte, waren vergebens und prallten an Floskeln ab: "Zu teuer", "administrativ nicht beherrschbar" - obwohl der Bund in Westberlin jahrzehntelang eine Mehrwertsteuerpräferenz erprobt hatte. "In Brüssel bei der EG-Kommission nicht durchzusetzen", war eine weitere besonders transparente Ausrede. Noch 1991, im vereinten Deutschland, galt für die Westberliner Wirtschaft eine Mehrwertsteuerpräferenz, die Produktion und Nachfrage dort lenkte, weil sowohl Wertschöpfung im EU-Wirtschaftsgebiet Berlin-West als auch Bezüge von Gütern aus Berlin-West durch einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz begünstigt wurden. Westberlin wurde weitergefördert, Ostberlin, Dresden, Chemnitz, Potsdam nicht. Dies alles mit Zustimmung der EU-Kommission. Des Pudels Kern findet sich anderswo: Bei einer Mehrwertsteuerpräferenz für die Neuen Länder hätte man sehr schnell vorrechnen können, welche Einnahmeausfälle dem Fiskus entstehen würden. Die gleiche Nachrechenbarkeit galt für die vom seinerzeitigen BDI- Präsidenten Tyll Necker in die Diskussion eingebrachten Steuer- und Abgabeentlastungen für Ostdeutsche, die einen ähnlichen "Außenschutz" vor den haushoch überlegenen, marktwirtschaftlich durchtrainierten westdeutschen Unternehmen geboten hätten. Natürlich hätte die Kostentransparenz einer solchen Flankierung diejenigen Lügen gestraft, die den Westdeutschen einreden wollten, alles gehe ganz leicht mit einer Anschubfinanzierung "aus der Portokasse", ohne Steuererhöhungen, ohne Schulden. Und ohne große Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland - jeder könne in den Neuen Ländern eine neue, besser bezahlte Existenz finden.

Ohne einen solchen "außenwirtschaftlichen Schutz", der durchaus mit der staatlichen Vereinigung und der Währungsunion hätte einhergehen können, ließ man den von den Versorgungsstaaten des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus geprägten Ostdeutschen keine Zeit, zu lernen, sich umzustellen, ihre Märkte mit eigenen neuen Produkten zu bedienen und damit viele Arbeitsplätze wettbewerbsfähig zu machen. Wäre nicht erkennbar, daß die einen Wahlen gewinnen wollten und die anderen nicht recht wußten, worum es im ökonomischen Kern ging, könnte man vermuten, die damalige Bundesregierung hätte versehentlich einen in Zukkerwatte verpackten Morgenthau-Plan zur Deindustrialisierung des Ostens ins Werk gesetzt.

Bis heute verstecken sich die seinerzeit Verantwortlichen hinter missionarischen Marktbekenntnissen und zwei Schutzbehauptungen. Der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer wiederholte sie am 30. Juni 2000 im Rheinischen Merkur. Die erste: "Zu dem eingeschlagenen Weg gab es allerdings keine grundlegenden Alternativen." Selbstverständlich gibt es immer eine Alternative und mehrere Optionen. Beispielsweise die genannten Maßnahmen des befristeten "Außenschutzes der Wirtschaft" der seinerzeitigen DDR. Richtig freilich ist, daß vor dem Hintergrund der Wahlversprechen von 1990, die Ostdeutschen könnten in wenigen Jahren 40 Jahre bundesrepublikanischer ökonomischer Dynamik aufholen und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse liege zum Greifen nahe, nichts anderes übrig blieb, als die faktische Umstellung der Löhne im Verhältnis eins zu eins und die volle Übertragung der Sozialleistungen der Bundesrepublik von Anfang an. Nimmt man statt der komplexen Transformationsaufgabe das schlichte Wahlkalkül der Parteien von 1990 in den Blick, dann, aber nur dann, wird auch klar, wieso es keine Alternative zu Stufenplänen gab, die mit der staatlichen Einheit einige Zeit durchaus hätten einhergehen können. Wie es in den fünfziger Jahren beim Saarland beispielsweise auch geschehen war.

Otto Pöhl, 1990 Bundesbankpräsident, bestätigt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juni 2000, daß die Bundesbank nichts gewußt habe von der beabsichtigten Ankündigung Helmut Kohls, die D-Mark in der DDR sofort einzuführen. "Im übrigen wußte ja auch das Bundeskabinett anfangs nichts, nur die vier Parteivorsitzenden haben, wie ich glaube, ... die Einführung der DM angeboten." Diesen aber ging es - in dieser Funktion durchaus legitim - um Machterhalt und Machterwerb bei Wahlen und nicht um Ökonomie. Diese Absicht erklärt auch, warum die SPD gegen ihren damaligen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine alle wirtschaftlichen Bedenken hintanstellte und der ökonomischen Aufklärung in Ost und West "entsagte". Obwohl man hat wissen können, daß die mit den Dauertransfers belasteten, solidarischen Renten-, Gesundheits- und Arbeitslosenkassen, Neoliberalen eh ein Dorn im Auge, "reformreif" geschossen würden.

Eindeutig ist: Für die D-Mark als Wahlgeschenk an die Ostdeutschen gab es keine auch nur halbwegs ähnlich wirksame Alternative. Daß sich dann - Gipfel ökonomischer Unvernunft - die Umstellung der Löhne im Verhältnis eins zu eins als Danaer-Geschenk, als Aufruf zum Marsch einer ganzen, schon ohne Schock fragilen Volkswirtschaft in den Konkurs herausstellen würde, war den Beteiligten ebenso klar.

Klar war auch, daß über die immensen Risiken nicht geredet werden sollte: Der zuständige Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Otto Schlecht, schrieb im Juni 1990 an die Präsidenten der vom BMWI finanziell abhängigen großen Wirtschaftsforschungsinstitute einen Brief, in dem er die von seiner Regierung gewählte Form der Vereinigung mit der selbstmörderischen "Besteigung der Eiger-Nordwand im Winter" verglich - und zugleich die "Bitte" formulierte, sich mit Kritik und Problematisierung zurückzuhalten. Auch ein Beitrag zur damaligen Political Correctness, zur Indoktrination der Gesellschaft. Mit der Tabuisierung von Alternative und Kritik gelang es, denjenigen deutsche Gesittung und Verständnis für den Kairos zu bestreiten, die ihrem Sachverstand folgten, aber nicht begriffen hatten, daß es 1990 um den ersten Wahlsieg im vereinigten Deutschland ging. Und eben nicht um einen Prozeß der Integration der Deutschen und der sorgsamen Transformation der DDR-Wirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ordnung. Political Correctness erforderte kollektive Leichtfertigkeit als erste Bürgerpflicht.

Die zweite Schutzbehauptung kommt harmlos daher. Sie lautet: "Hinzu kam das über alle Erwartungen hinausgehende schnelle Wegbrechen der Märkte in Osteuropa", so musterhaft Tietmeyer im Rheinischen Merkur vom 30. Juni 2000. Aber: Konnte denn irgend jemand erwarten, daß die ehemaligen Comecon-Partner der DDR beim gewählten Umstellungskurs von DDR-Mark zu D-Mark, der zumindest zu einer Verdoppelung der Exportpreise führen würde, weiter DDR-Produkte kaufen? - Von den notwendigsten Ersatzteilen zu ehemaligen DDR- Lieferungen abgesehen, nein. Schon vor der Vereinigung Deutschlands war im Comecon beschlossen worden, künftig den Außenhandelsverkehr der Kommandowirtschaften in konvertierbaren Devisen, in Dollar und D-Mark statt in Rubel-Verrechnungseinheiten abzuwickeln. War da nicht damit zu rechnen, daß die Comecon- Länder auf Konkurrenzprodukte westlicher Industrieländer umsteigen würden, die, von Ausnahmen abgesehen, leistungsfähiger und preisgünstiger waren? Es gab 1990 keine tragfähige Basis für die Annahme, daß die DDR-Wirtschaft die ohnehin immer schwierigeren Exportmärkte würde halten können. Sie konnte ja nicht einmal ihre Binnenmärkte verteidigen, und die Beteiligten wußten das - siehe Schäuble.

Die Treuhandanstalt hatte bei dieser politischen Strategie des erkannten Zusammenbruchs keine ernsthafte Chance, industrielle Kerne zu

sanieren und zu erhalten. Es sei denn vielleicht, sie hätte von Anfang an und mit großer Konsequenz ausländische - sprich: nicht westdeutsche - Unternehmen zu gewinnen versucht. Oder verhindern können, daß die westdeutschen Unternehmen an die Kundenkarteien der ostdeutschen Betriebe kamen, ehe nicht feststand, daß sie tatsächlich im Osten Produktionkapazitäten aufbauen. Die hocheffizienten westdeutschen Unternehmen eroberten die Märkte in Ostdeutschland im Nu; insbesondere auch, weil die Ostdeutschen nur noch Westprodukte für ihre D-Mark kaufen wollten. Auch dies war zu erwarten, nachdem die Ostdeutschen nach Jahren der Werbung aus dem Westfernsehen nun endlich die Produkte anfassen und nicht nur anschauen konnten.

Die Märkte der ehemaligen DDR waren erobert, ehe ein Sanierungsplan umgesetzt werden konnte. Die westdeutschen Kapazitäten allein reichten aus, die Ostdeutschen mit interregional handelbaren Gütern zu versorgen. Damit schlug erst mal die letzte Stunde des Produktionsstandortes Neue Länder. Bei dieser voraussehbaren Marktlage blieb der Treuhand eigentlich nur der Verhandlungsweg mit den Investoren, sie zahlte, was verlangt wurde. Gelegentlich mehrfach: Der Bremer Vulkan, der das für die Werften in den Neuen Ländern bestimmte Geld von der Treuhand zunächst nach Westen exportierte und sich damit nicht einmal eindeutig vertragswidrig verhielt, war nur ein Beispiel für viele.

Die fehlende Entwicklungskomponente der Bonner Wirtschaftspolitik, vermengt mit einer öden Ideologie von der Omnipotenz der Märkte, die es schon richten würden, machte Treuhandanstalt zum Bestattungsunternehmen der ohnehin schwachen Kombinate der ehemaligen DDR. Diese Rolle hatte ihr die Bundesregierung zugewiesen. Und die Treuhand hat unter ihrer Präsidentin die Rolle für hohe Gagen bei extrem hohem Vermögensverzehr gespielt - als wär’s ein Stück von ihr. Statt der Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Produktion in Schritt für Schritt privatisierenden Unternehmen jeden marktwirtschaftlich möglichen Vorrang zu geben.

Es kam, was eindeutig absehbar war - die Zahl der Industriebeschäftigten ging seit der Wende um 50 Prozent zurück. Statt dessen wurde mit der Gießkanne voll von Steuervorteilen ein dauerhaft keinesfalls tragfähiger Branchenmix zusammensubventioniert: Die Bauwirtschaft in den Neuen Ländern hat inzwischen einen Anteil an der Bruttowertschöpfung von 15 Prozent (in Westdeutschland von 4,6 Prozent) das verarbeitende Gewerbe von 16 Prozent (Westdeutschland: 27 Prozent).

Die Investitionsruinen und die industriellen Brachen dieser Politik sind in den Neuen Ländern auf breiter Front zu besichtigen. "Es sind unglaubliche Fehler gemacht worden. Zum Beispiel die Sonderabschreibungen für Immobilien. Damit die reichen Westdeutschen Steuern sparen konnten", so der Kommentar des ehemaligen Bundesbankpräsidenten Otto Pöhl in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juni 2000.

Nicht zuletzt diese Mixtur in Verbindung mit den lähmenden Wirkungen des Prinzips Rückgabe vor Entschädigung haben bei den Bürgern in den Neuen Ländern den falschen Eindruck hervorgerufen, die Westdeutschen insgesamt hätten sich an der Vereinigung bereichert. Tatsächlich konnten sich dank dieser Politik Pöhls Reiche erst mal im Übermaß bereichern. Weit mehr als neun von zehn Westdeutschen haben bisher nur gezahlt - und zahlen weiter.

Auch die Fehler werden weiterhin gemacht. Der öffentliche Bau in den Neuen Ländern ist seit Mitte 1998 rückläufig. Statt den Aufbau der unverzichtbaren Infrastruktur als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu forcieren, verstärken Bund und Neue Länder gemeinsam den Abschwung am ostdeutschen Bau durch eine im Investitionsbereich restriktive Finanzpolitik. Hier ist die Auswirkung einer volkstümelnden Konsolidierungspolitik zur Unzeit auf Wachstum und Beschäftigung mit Händen zu greifen. Jede unterlassene wirtschaftsnahe Infrastrukturinvestition beeinträchtigt die Chancen künftiger Wettbewerbsfähigkeit der Neuen Länder und ist jetzt und dauerhaft ein Beitrag zu mehr Arbeitslosigkeit. Die gefällige Konsolidierung heute ist finanzpolitisch kontraproduktiv. Sie verlängert automatisch die ohnehin noch lange Frist, in der konsumtive Transferzahlungen (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, Umschulungsschleifen z.†B.) in die zurückbleibenden Neuen Länder unvermeidbar bleiben. Aber dieser schleichende Prozeß ist viel schwerer zu durchschauen und medial aufzubereiten als die Erfolgsmeldungen, man habe schon wieder eine Milliarde Schulden getilgt.

Also haben wir zehn Jahre nach der Vereinigung statt des staatssozialistischen ökonomischen Dornenfeldes bereits einen Mezzogiorno in Deutschland - jene Region Süditaliens, an der die Industrialisierung fast spurlos vorbeigegangen ist, die seit Jahrzehnten von der römischen Cassa per il Mezzogiorno, von staatlichen Subventionen lebt; aus der seit den fünfziger Jahren die Menschen abwandern, z.†B. in den Norden Italiens, in die Schweiz oder als Gastarbeiter nach Westdeutschland? Ist Ostdeutschland nach zehn Jahren falscher Therapie schon eine Region mit stetig schleichender Abwanderung der Aktiven bei Überalterung der Bleibenden?

Selbstverständlich gibt es inzwischen rasch wachsende industrielle Branchen in den Neuen Ländern (Büromaschinen und Datenverarbeitung etwa), aber ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft ist erheblich geringer als in Westdeutschland. Selbstverständlich findet Strukturwandel hin zu marktgängiger, nicht kommandowirtschaftlicher Produktion statt. Manche Produkte sind preiswert und gut, da mag es nur an der Vermarktung hapern. Aber der Prozeß insgesamt ist vor fünf Jahren "ins Stocken geraten", so der Präsident des Halleschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Rüdiger Pohl. (Wirtschaft im Wandel 8/2000, S. 226) Und: "Es ist eine Wertungsfrage, ob in dem vorerst weiter bestehenden Rückstand ein Scheitern der Transformation zu sehen ist." Der Prozeß "stockt" seit 1995, seitdem verharrt das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbsfähigem bei nur 55 Prozent des westdeutschen Durchschnitts. Und die Berliner Politik redet vom Solidarpakt II, der ab 2005 Abhilfe schaffen soll. Verplemperte Zeit. Je später für die Ostdeutschen Klarheit geschaffen wird, ob überhaupt und wie verläßlich Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, um so wahrscheinlicher wird es, daß die Jungen und Leistungsfähigen verstärkt nach Westen wandern.

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