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Lettre 149 / Pavlo Makov
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Inhaltsverzeichnis

LI 149, Sommer 2025

„Nie wieder” und der Krieg

Über den Kampf für die Freiheit in dramatischen Zeiten

(…)

„Nie wieder“ und das internationale System 

Ich weiß nicht, wie die Historiker diese historische Periode in Zukunft nennen werden. Aber das internationale System des Friedens und der Sicherheit, das auf der UN-Charta und dem Völkerrecht beruht, bricht vor unseren Augen zusammen. Die UNO tritt auf der Stelle und reproduziert rituelle Bewegungen. Der Sicherheitsrat ist gelähmt. Internationale Grundsätze wie die Nichtanwendung von Gewalt, die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen und die Achtung der territorialen Integrität werden offen in Frage gestellt. Dabei war es gerade die Verweigerung dieser Prinzipien im letzten Jahrhundert, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hat. 
     Wir leben in turbulenten Zeiten. In verschiedenen Teilen der Welt brechen immer häufiger Brände aus, weil die Leitungen fehlerhaft sind und überall Funken schlagen. Die internationale Ordnung ist zerstört worden, und es wird große Anstrengungen erfordern, sie wiederherzustellen.
     Es scheint, daß die Demokratien nicht bereit sind, hierfür Verantwortung zu übernehmen. Die Generationen, die sich an die Lektionen des Zweiten Weltkriegs erinnern, sind nicht mehr da. Die heutigen Generationen haben die Demokratie von ihren Eltern geerbt. Sie betrachten Freiheit und Sicherheit als selbstverständlich. Sie stellen die Bedeutung der Erklärung der Menschenrechte in Frage. Sie sind zu Konsumenten von Werten geworden. Die Menschen verstehen Freiheit als eine Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen populistische Versprechungen, wirtschaftliche Vorteile, die Illusion von Sicherheit und vor allem gegen ihre eigene Bequemlichkeit einzutauschen.
     Es tut mir wirklich leid, aber die Jahrzehnte des relativen Friedens und der nachhaltigen Entwicklung sind vorbei. Selbst für die westlichen Gesellschaften, ganz zu schweigen von den Teilen der Welt, die sich diesen Luxus nie leisten konnten. Es ist unmöglich, ein Paradies zu schaffen, selbst wenn man eine durch Ozeane getrennte Insel ist, wenn ein Teil der Welt durch Massengewalt von Blut überströmt wird. Die Jahrzehnte der Freiheit, die mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion einhergingen, sind vorbei. Globale Herausforderungen stehen vor unserer Tür. 
     Zu allem Überfluß leben wir in einer Welt, in der sich neue Technologien rasant entwickeln. Die Menschen verbringen immer mehr Zeit im virtuellen Raum, der mit Fake News und Desinformationen verseucht ist. Dies führt dazu, daß die Menschen die Fähigkeit verlieren, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Sie werden anfällig für Manipulationen von außen. Die Mitglieder einer kleinen Gemeinschaft haben nun kein gemeinsames Bild der Realität mehr. Ohne ein gemeinsames Bild von der Realität sind die Menschen nicht in der Lage, gemeinsam zu handeln. Wie sollen wir ohne gemeinsames Handeln diese globalen Herausforderungen bewältigen?
     Die menschliche Natur ist unveränderlich: Wenn uns die Realität Angst macht, werden wir sie verleugnen. Wir werden uns aus der Realität diejenigen Fragmente herauspicken, die unser Bild von der Welt bestätigen, und alles, was nicht in dieses Bild paßt, kategorisch ablehnen. Wir werden auch einfache und schnelle Lösungen fordern, um zum Status quo zurückzukehren, und wir werden für die Politiker stimmen, die uns diese versprechen. 
     Eine laufende Nase kann man mit Sit-ups behandeln, zumindest schadet diese Behandlung nicht der Gesundheit. Aber wenn es um Krebs geht, sind die Kosten für einfache Lösungen und das Hinauszögern des Therapiebeginns hoch.
     Ich möchte es so formulieren: Dem Zusammenbruch der internationalen Ordnung ging eine Krise der Ethik voraus. Wir begannen, die Devise „Nie wieder“ auf unterschiedliche Weise zu interpretieren. 

 

„Nie wieder“ und die Krise der Ethik

Für die Ukrainer bedeutet das „Nie wieder“ wörtlich Folgendes: Wir werden das Böse nicht hinnehmen, auch wenn es unsere Möglichkeiten um ein Vielfaches übersteigt. Wir werden uns dem Bösen widersetzen, wir werden „nie wieder“ sagen zu Besatzung, Konzentrationslagern, der Zerstörung ganzer Völker, Mord und Folter. Wir werden für die kleinste Chance kämpfen, daß unsere Kinder die Möglichkeit haben, frei von Angst vor Gewalt zu leben und ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Für die Ukrainer ist das „Nie wieder“ nicht nur ein Wort. Wir haben es auf dem Schlachtfeld bewiesen.
     Aber für viele Menschen in den westlichen Gesellschaften bedeutet das „Nie wieder“: Wir werden nie wieder einen hohen Preis für unsere Freiheit zahlen. Selbst wenn unser eigenes Leben auf dem Spiel steht, sind wir nicht mehr bereit, es zu riskieren. Wir werden Kompromisse mit dem Bösen eingehen – Putin die Hand schütteln, zu Militärparaden auf dem Roten Platz kommen, Gaspipelines bauen, Geschäfte wie immer machen. 
     Wir werden sagen, daß wir für den Frieden sind. Und obwohl wir nicht wissen, wie wir Rußland aufhalten können, werden wir verlangen, daß man aufhört, der Ukraine zu helfen. Wir werden das Recht auf Selbstverteidigung und Widerstand gegen die russische Aggression als „Verlängerung des Krieges“ bezeichnen. Wir werden das Böse normalisieren. Wir werden versuchen, mit ihm zu verhandeln. Wir werden Millionen von Menschen in der Grauzone lassen, so daß Menschenrechtsaktivisten all die Jahre über Entführungen, Folter, Vergewaltigungen, Zwangsadoptionen ukrainischer Kinder, die Auslöschung der ukrainischen Identität, Filtrationslager und Massengräber berichten werden. Wenn nur dieses Übel nicht auf uns übergreifen und sich weiter ausbreiten würde.
     Aber das ungesühnte Böse wächst. Rußland ist ein Imperium. Und ein Imperium hat ein Zentrum, aber keine Grenzen. Ein Imperium strebt immer nach Expansion. Die bloße Existenz der freien Welt ist für autoritäre Regime immer eine Bedrohung. Es ist unmöglich, hier einen Kompromiß zu finden. Die Idee der Freiheit kann sich über ihre Grenzen hinaus ausbreiten. Und dann werden sie alle Macht verlieren.
     Menschen, die nur an ihre eigene Bequemlichkeit denken, haben ein typisches Problem mit ihrem Horizont. Sie nennen sich pragmatisch. Sie versuchen, hier und jetzt zu profitieren. Die menschlichen Werte sind ihnen egal. Aber wer eine Zukunft auf Pump will, sollte nicht vergessen, daß er früher oder später den Kredit samt Zinsen zurückzahlen muß. Lernen Sie aus unseren Fehlern. Russische Panzer kommen als Rechnung für billiges russisches Gas. Nach der Besetzung der Krim und des Donbass erholten sich einige Ukrainer von dem Schock und schalteten den Krieg aus den Nachrichten aus wie einen Schalter auf einer TV-Fernbedienung. Der Krieg machte zwar weiterhin Angst, aber er war weit weg. Und die Menschen wollten ein ruhiges Leben führen. Sie wollten keine Verantwortung übernehmen. Doch dann kam der Tag, an dem niemand mehr den Fernseher ausschalten konnte, und es blieb nichts anderes übrig, als die Kinder, die Dokumente und ein paar eilig zusammengesuchte Habseligkeiten zu packen und zu beten, daß keine russischen Panzer auf der Straße 
vorbeikommen würden.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 150 erscheint Ende September 2025.