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Cover Lettre International 57, Peter Zimmermann
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LI 57, Sommer 2002

Sufis, Pilger, Troubadoure

Heinrich von Morungen, ein Minnesänger auf Orientfahrt

(...) Wenn wir Morungens Spuren folgen, geraten wir unweigerlich auf die uralten Pilgerstraßen, die noch heute durch Indien führen, von Bussen und Fahrrädern befahren, aber auch noch genau wie vordem mit den Füßen erwandert. Der bedeutendste Knotenpunkt dieser Pilgerwege ist ein Ort, dem Großmogul Akbar den Namen Allahabad gab und der ursprünglich Prayag hieß. Noch heute ist er der größte Menschenmagnet des Subkontinents, der Pilgerströme aus ganz Indien anzieht, denn der Zusammenfluß der drei Ströme Ganga, Jamuna und Saraswati ist einer der heiligsten Orte der Hindus. Brahma selbst soll hier ein Opfer verrichtet haben. Astrologischen Gesetzen folgend, findet am Sangam, dem Ort dieser Konjunktion dreier Flußgöttinnen, alle zwölf Jahre ein Kumbh Mela statt, ein Badefest, zu dem Millionen von Pilgern herbeiströmen. Ein Kumbh ist das, was wir mit einem alten deutschen Wort als Kumpen bezeichnen, ein Gefäß für eine Flüssigkeit.

In diesem Fall war es der Trank der Unsterblichkeit, um den sich Götter und Dämonen stritten, als sie diesen kostbaren Nektar der Ewigkeit aus dem kosmischen Milchozean herausgequirlt hatten. Hier in Prayag fiel ein Teil dieses kostbaren Trunks zur Erde, seitdem verheißt ein Bad zur gesegneten Stunde Vergebung aller Sünden und Befreiung aus dem Rad der Wiedergeburten. Alle zwölf mal zwölf, also alle 144 Jahre, wird ein noch größeres Fest begangen, der Mahakumbh Mela. Der letzte Mahakumbh Mela war aller Wahrscheinlichkeit nach die größte Menschenansammlung, die je auf dem Planeten Erde stattgefunden hat; Schätzungen der Zahl der im Januar 2001 auf den Flußufern kampierenden Pilger schwankten zwischen 15 und 30 Millionen. Noch immer sind es Musiker, die mit ihren Liedern von göttlicher und menschlicher Liebe die Pilger unterhalten.

Morungen war nicht nur einer der flammendsten und kühnsten Dichter seiner Zeit, sondern auch ein Sucher spiritueller Schätze. Im Laufe seiner Reise, die ihn wahrscheinlich von Syrien aus durch das Zweistromland und dann von der Euphrat-Tigris-Mündung aus zu Schiff nach Indien führte, habe Morungen möglicherweise „eine gewisse religiöse Mimikri" durchzuführen gehabt, schreibt der Germanist Richard Hennig. Als Beweis dafür, daß das nichts Ungewöhnliches ist, führt er Niccolo Conti an, der Morungen zweieinhalb Jahrhunderte später folgte und von Papst Eugen IV. die Absolution für seinen im Laufe der Reise vollzogenen Übertritt zum Islam erlangte.

Es gibt aber noch deutlichere Hinweise darauf, daß Morungen mit der Welt der Sufis in Verbindung gestanden hat, vielleicht sogar ein Renegat war. Sein Wappen in der Manessischen Liederhandschrift zeigt drei Halbmonde, deren Spitzen mit Sternen besetzt sind – ein Sinnbild, das auf eine Begegnung mit den Sarazenen hindeutet? Hat er dieses Wappen selbst gewählt? Oder ist es der Phantasie eines späteren Illustrators entsprungen, der mit diesem Bild auf die Orientfahrt des Minnesängers hinweisen wollte?

Deutlicher noch spricht ein anderes Wappen, das über Morungens Porträt in der zweiten Überlieferung seiner Texte in der Weingartner Liederhandschrift erscheint. Es zeigt einen schwarzen, von einem Stirnband umhüllten Kopf. Einen Mohrenkopf, meinen philologische Kommentatoren der Gegenwart, hergeleitet aus dem in Morungens Namen verborgenen Mo(h)ren. Doch der schwarze Kopf weist noch auf etwas ganz anderes hin: Er ist ein Symbol der Initiation, das Kennzeichen eines in die Tradition der Weisheit eingeweihten Sufis. Idries Shah identifiziert ihn mit dem arabischen abufihamat, dem „Vater des Erkennens", dem schwarzen Kopf, der in der Tradition der Sufis als Symbol des vollendeten Menschen gilt. Hugues de Payen, der Gründer des Templerordens, trug drei dieser schwarzen Köpfe auf goldenem Grund in seinem Wappen. Dem Illustrator, der in der Weingartner Liederhandschrift Morungen einen solchen Kopf ins Wappen setzte, dürfte das bekannt gewesen sein, aber von der germanistischen Forschung wurde dieser Hinweis bisher übersehen.

Die Inquisition, die nach dem Verbot des Templerordens gegen seine Mitglieder vorging, erhob gegen sie die Anklage, sie beteten einen Kopf an, der Baphomet oder Bahomet genannt wurde. Man hielt ihn für ein Götzenbild und vermutete, er stehe mit Mahomet oder Mohammad in Zusammenhang. Von lateinischen Autoren wurde der Prophet des Islam als ein Magier geschildert, der mit Zauberkraft und Schlauheit die Kirche in Afrika und im Orient vernichtet und seinen Erfolg dadurch konsolidiert habe, daß er Promiskuität gestattete. Sein Grab, so hieß es, schwebe mit Hilfe von Magneten mitten in der Luft – eine Geschichte, die auch der Krishnastatue im Tempel von Dwarkanath zugeschrieben wurde. Auf den Kapitellen mittelalterlicher christlicher Kathedralen wurden Muslime und Juden in Gestalt von Schweinen, Affen und Hunden dargestellt. Fast noch gehässiger waren nackte Gestalten, welche die Geschlechtsteile entblößen oder ihre Mäntel heben und onanieren, womit man die zügellose Sinnlichkeit der Muslime zur Schau stellen wollte – all dies, um die „pauverisierten Massen Westeuropas für den Kreuzzug zu agitieren", wie der Kunsthistoriker Claudio Lange demonstrierte.

Das Land, in das Morungen nach seiner Orientreise zurückkehrte, blieb von der Katastrophe, die in Südfrankreich stattfand, keineswegs unberührt. Die Verfolgung der Katharer und Albigenser war 1199 auf dem Konzil von Toulouse beschlossen worden, und während Morungen in Indien war, kam das Wüten des innereuropäischen Kreuzzugs und der ihr nachfolgenden Inquisitoren zu seinem Höhepunkt. Fliehende Katharer ließen sich nicht nur in der Lombardei nieder, sondern auch in Deutschland, etwa in Erfurt. In Deutschland faßte die Inquisition nur phasenweise und nur in bestimmten Gegenden Fuß, da es – obwohl offiziell Teil des Heiligen Römischen Reiches – keiner zentralen Kontrolle unterlag und sich die deutschen Fürsten gegen Vorschriften aus Rom wehrten.

Wenn es die Umstände erlaubten, brachen die dominikanischen Inquisitoren auch hier in hektische Aktivitäten aus, doch ihre Terrorherrschaft erstreckte sich selten über mehr als ein Jahrzehnt. Der berüchtigste Ketzerverfolger war Konrad von Marburg, den der Papst 1217 zum Oberaufseher über die deutsche Inquisition bestellte. Mit ihm könnte Morungen selbst in Berührung gekommen sein, denn er begann seine Karriere als Beichtvater von Elisabeth, der Frau Ludwigs IV., die zwischen 1211 und 1228 auf der Wartburg und am Thüringer Hof lebte. Mit sadistischen Kasteiungen quälte Konrad sie so sehr, daß sie im Alter von 24 Jahren starb. Wenig später wurde Elisabeth heiliggesprochen. Konrad wurde in der Nähe von Marburg von Unbekannten ermordet, nachdem er auch einige hohe deutsche Edelleute der Ketzerei bezichtigt hatte. Doch die Gewalt, welche die Inquisition ausübte, war nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Jeder konnte zum Opfer eines Denunzianten werden, den er nicht einmal kannte; Paranoia war das Herrschaftsprinzip.

Ich finde es verführerisch, mir vorzustellen, daß Morungen von seiner Orientreise im wollenen Gewand eines Sufis zurückgekehrt ist. Er könnte, ja müßte sich durch das Netz von Pilgerherbergen und Derwischkonventen bewegt haben, das sich zwischen Marokko und Indien erstreckte, könnte am Schrein des Weltdurchwanderers in Uchchh, dem jeder Reisende seine Reverenz erwies, in die geistige Welt der Sufis eingedrungen sein, könnte die Enthüllung des Verschleierten studiert haben, in der Hujwiri in Lahore den Kodex der geistig Reisenden formuliert hatte, hätte die ersten Qawwals gehört, hätte in Vrindaban oder anderen Knotenpunkten des psychogeographischen Netzes der Sänger und Dichter der indischen Bhakti deren Version der Anbetung der weiblichen Seele kennengelernt. Wenn es so gewesen sein sollte, hätte er jedenfalls den Mund in Deutschland nicht mehr öffnen, die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Orientfahrt mit nur wenigen, vielleicht keinem einzigen Menschen, teilen können.

Diejenigen haben Recht, die sagen, die Liebe würde bis ans Ende der Welt verfolgt", schrieb um diese Zeit Gottfried von Straßburg in seinem Tristan. „Alles, was wir noch von ihr besitzen, ist das nackte Wort, nur der Name bleibt uns. Und den haben wir so sehr abgedroschen, mißbraucht und erniedrigt, daß sich das arme, müde Ding nun seines eigenen Namens schämt und das Wort verabscheut. Sie ekelt sich vor sich selbst und verachtet sich von Herzen. Aller Ehre und Würde beraubt, schleicht sie bettelnd von Haus zu Haus, verschämt einen scheckigen Lumpensack hinter sich herziehend, in den sie alles hineintut, was sie erhaschen oder stehlen kann, um es dann auf den Straßen zu verkaufen. Was für eine Schande! Wir selbst sind es, die das verursacht haben. Wir fügen ihr das alles zu und behaupten doch, unschuldig zu sein. Die Liebe, die Herrin aller Herzen, die edle, unvergleichliche, steht auf offenem Markt zum Verkauf."

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