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Cover Lettre International, Tobias Rehberger
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Inhaltsverzeichnis

LI 98, Herbst 2012

Der griechische Knoten

Ursachen der Krise – von Europas Komplizenschaft und Verantwortung

Auszug (12.000 von 66.000 Zeichen)

 

Im Jahr 2000 wurde Griechenland in die Eurozone aufgenommen. Die griechische Wirtschaft hatte keines der Aufnahmekriterien erfüllt: Weder die Inflation noch das Defizit oder die Verschuldung blieben unterhalb der geforderten Schwelle. Mittlerweile ist bekannt, daß die Regierung Simitis getrickst hatte, um die Kennziffern der griechischen Wirtschaftsleistungen den Anforderungen der Eurozone anzunähern. Es ist evident, daß die Entscheidung, Griechenland mit der Eurozone in Einklang zu bringen, politischer Natur war. War es die geringe relative Bedeutung der griechischen Wirtschaft in Europa, welche den Ausschlag gab für diese Großzügigkeit gegenüber einem Land, das geopolitisch und geostrategisch nützlich ist?


Die wechselnden griechischen Regierungen haben im Euro ein Mittel gefunden, sämtliche politischen oder Politiker-Probleme dadurch zu umgehen, daß schlicht und einfach Geld verteilt wird, und zwar unter den verschiedensten Vorwänden. Einem Land, das Kapitalmangel gewohnt war, einer Generation an der Macht, die noch über Reflexe aus der Zeit der „Unterentwicklung“ verfügte, mußte das leichte Schuldenmachen, das der Euro mit sich brachte, wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. Statt die Schulden, welche die Regierungen seit 1981 angehäuft hatten, zurückzuzahlen, hat Griechenland zehn Jahre lang ein riesiges Konsumfest gefeiert.


Es liegt auf der Hand, daß unter diesen Umständen keine Modernisierung oder Reform möglich war. Da man derart leicht an Finanzmittel kam, verspürten die politisch Verantwortlichen keinerlei Motivation, sich mit den Gewerkschaften anzulegen, ja nicht einmal mit den korrupten Netzwerken innerhalb des Staatsapparats selbst, deren Interessen durch Rationalisierungsmaßnahmen bedroht gewesen wären. Im Gegenteil: Die Politiker beteiligten sich selber an der ökonomischen Laxheit, um mit Hilfe des Klientelismus ihre Wiederwahl zu sichern.


Seit der Schaffung des modernen Griechenland ist die Anstellung von „Protegés“ im Staatsdienst das wichtigste Instrument des Klientelismus. Das von außen hereinströmende Manna erlaubte es, den öffentlichen Dienst aufzublähen, der gegenwärtig mehr als eine Million Angehörige zählt, ein Viertel des aktiven Teils der griechischen Bevölkerung. Die Schwerfälligkeit eines Staatswesens, das mit Staatsdienern zweifelhafter Kompetenz und Motivation überreich gesegnet ist, stellt ein Hindernis für sein gutes Funktionieren dar. Zu den Problemen der schieren Größe des öffentlichen Dienstes kommt noch die Existenz von korrupten Netzwerken, die zu einer „mafiösen Privatisierung“ des öffentlichen Sektors geführt haben. Jener Teil des öffentlichen Sektors, der in der Illegalität arbeitet, gehört zu einem größeren System mit Verzweigungen in die Presse oder die Welt der Rechtsanwälte usw. hinein. Die Gewerkschaftsbewegung, die sich oft überaus handfester Methoden bedient, bildet einen Schutzschild, der jegliche Reformbestrebung gegen diese Strukturen abwehrt.

Unter diesen Bedingungen kann der private Sektor nicht gesund sein. Statt auf dem schwierigen Feld des Wettbewerbs zu bestehen, versuchen viele Großunternehmen, mehr oder weniger legale Beziehungen zu Verwaltung und Staatsdienst zu knüpfen. Die Angewiesenheit auf die in Form von Subventionen, Krediten usw. von außen hereinströmenden Finanzmittel vergrößert die Abhängigkeit der Unternehmen gegenüber dem Staat, der die Verteilung dieser Mittel organisiert. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor: Sie treiben sich gegenseitig immer tiefer in Komplizenschaft und Korruption. Diese von innen her zerfressene Wirtschaft und Gesellschaft konnte überleben, da Europa seit mehr als drei Jahrzehnten auf vielerlei Weise Schutz gewährt hatte. Die narkotisierende Wirkung dieser Protektion hat sämtliche, bisweilen sehr mutige Anstrengungen zur Bekämpfung des Niedergangs neutralisiert.


Es ist daher ungerecht, die gesamte politische Klasse Griechenlands auf die Anklagebank zu setzen. Der eben erwähnte Prozeß hat ein „Spielfeld“ entstehen lassen, das für ernsthafte und verantwortungsvolle Politiker absolut ungünstig ist. Ihre Appelle und Bemühungen haben lebhafte Reaktionen jener Netzwerke hervorgerufen, deren Interessen bedroht waren und die nicht zögerten, sich zur Einschüchterung auch der Gewalt zu bedienen. Die Wähler haben der politischen Seriosität und dem Verantwortungsbewußtsein ihre Unterstützung versagt, weil die Konsequenzen der Laxheit vor 2009 nicht sichtbar wurden. Im Gegenteil: Die Wähler haben mitgemacht bei der „großen Party“, die mit fiktiven Mitteln finanziert worden war. Meistens war es nicht einmal nötig, die Verantwortungsbewußten in der Politik einzuschüchtern, denn ihre Worte wurden gewissermaßen von allein diskreditiert durch die Kluft, die zwischen ihren Warnungen und einer von den Wählern wahrgenommenen Realität klaffte.


Heute wirft man den Griechen Unverantwortlichkeit, Unehrlichkeit und Parasitismus vor. Ist es aber nicht ziemlich unbedacht, Europa und Griechenland so schlicht einander entgegenzusetzen, als würde es sich um zwei glasklar getrennte Entitäten handeln? Das hieße zu vergessen, daß dreißig Jahre gemeinsamen Lebens in EG und EU sowie sechzig gemeinsame Jahre in der NATO enge Verbindungen geschaffen haben zwischen den griechischen Akteuren und den euro-atlantischen Strukturen.

(…)


Als die Experten der Troika 2010 nach Athen kamen, waren sie unangenehm überrascht, als sie entdecken mußten, daß die griechische Verwaltung aus Kulissen bestand. Das Unangenehme war vor allem der Tatsache geschuldet, daß die ökonomistische Sichtweise der internationalen Experten hartnäckig ignoriert, daß sich hinter ein und demselben Begriff „Staat“ deutliche Wesensunterschiede verbergen können. Die Besonderheiten und Probleme der griechischen Verwaltung erklären sich aus der Art und Weise, wie der griechische Staat entstand und aufgebaut ist, sowie aus den sich daraus ergebenden Spannungen zwischen der athenischen Elite und dem Rest der Bevölkerung. Die Schwächen des Staates resultieren aus einem Kompromiß zwischen Zentrum und Peripherie, der – wenigstens in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz – dafür sorgen sollte, innerhalb des neugeschaffenen Territoriums ein Minimum an politischer und militärischer Stabilität zu gewährleisten.


Der griechische Staat wurde von hohen deutschen Beamten geschaffen, die einst (1832) den Begleittroß des ersten Königs, des bayerischen Prinzen Otto, gebildet hatten. Die Zentralisierung wurde von einer Armee aus europäischen Söldnern durchgesetzt, gegen den Widerstand einer Gesellschaft, deren Lebensweise politisch, institutionell und kulturell osmanisch geprägt war – die also verstreut und in Netzwerke eingebunden lebte.


Der Aufbau eines modernen Staates mit all seinen Schwierigkeiten wurde während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts unter Fortschritten und Rückschlägen weiter vorangetrieben. Um die ländliche Bevölkerung, die sich in ihrer Ablehnung der importierten politischen Moderne in ein chronisches Brigantentum flüchtete, für sich zu gewinnen, nutzten die Machthabenden den Staatsapparat nicht nur als Repressionsinstrument, sondern auch als ein System zur Verteilung einer Art Rente oder Tribut. Zur wichtigsten Tauschwährung wurde dabei die Anstellung beim Staat. Ein Posten in der Verwaltung wurde in der ersten Zeit schlicht und einfach mit Unterwerfung, später dann durch ein bestimmtes Wahlverhalten quittiert.


Dieser Kompromiß – besser: diese Kompromittierung – der athenischen Eliten kann die chronischen Defizite des Staatshaushalts zumindest teilweise erklären. Auch die Ineffizienz der Verwaltung läßt sich damit erklären. Ihre Angestellten wurden nach Kriterien rekrutiert, die nur wenig mit der erforderlichen Kompetenz zu tun haben. Die Beamten hatten eher das Gefühl, einen ruhigen Posten ergattert als einen Auftrag erhalten zu haben: Wozu also arbeiten?


Um an eine ausreichende Zahl von Klienten eine gewisse Rente verteilen zu können, mußte die politische Elite Finanzierungsquellen auftun. Eine der Möglichkeiten, diesen aufgeblähten Staatsapparat zu unterhalten, bestand darin, der Wirtschaft überhöhte Steuern aufzuerlegen, wodurch im Gegenzug die Tradition des Steuerbetrugs Wurzeln schlug, was in einem merkwürdigen Kräfteverhältnis endete: Staat gegen Wirtschaft, Wirtschaft gegen Staat. Da die Einnahmen nie ausreichten, mußte man sich zusätzlich ans Ausland wenden, früher an Europa und die Vereinigten Staaten, heute an Rußland und China. Die griechischen Eliten haben auf diese Weise gelernt, die Gefühle der Sympathie gegenüber Griechenland sowie die geostrategische Lage des Landes auszunutzen, um ausländisches Kapital zu erhalten. Sie haben sich in einer Mittlerposition eingerichtet zwischen einer kulturell orientalisch geprägten Bevölkerung, die im Austausch gegen ihre Unterwerfung eine gewisse Rente fordert, und den westlichen Mächten, die in einer bestimmten Kombination aus Naivität und geopolitischem Kalkül die dafür notwendigen Mittel bereitstellten.

(…)

Griechenland steht heute an einem Scheideweg. Ein „politischer Unfall“, ausgelöst durch soziale Spannungen, ungeschicktes Verhalten seitens der Europäer oder durch den Widerstand jener Netzwerke, die in unterschiedlichsten Formen die Vergangenheit repräsentieren, kann zu einem wirtschaftlichen und damit auch humanitären Desaster führen. Im neuralgischen geopolitischen Kontext, in den Griechenland eingebunden ist, könnte eine solche Entwicklung auf internationaler Ebene schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.

(…).

Muß man daran erinnern, daß das geopolitische Umfeld Griechenlands immer noch in Bewegung ist und Griechenland seinerseits für dieses Umfeld bis heute einen der wenigen Pfeiler einer relativen Stabilität darstellt? Man braucht nur daran zu denken, daß die Probleme auf dem westlichen Balkan immer noch nicht gelöst sind, daß Serbien seine Erniedrigung im Kosovo nur schwer zu vergessen vermag, daß die Türkei sich vom Westen und von Israel abwendet, daß der vielgestaltige „Arabische Frühling“ neue Unsicherheiten mit sich brachte; von den Bürgerkriegen gestern in Libyen und heute in Syrien erst gar nicht zu reden … Wie kann Europa mit der griechischen Situation umgehen, um die Chancen des positiven Szenarios zu mehren und die Gefahr, daß die Wirtschaftskrise in eine geopolitische Krise umschlägt, zu verhindern? Europa hat materielle Trümpfe in der Hand, um diese Entscheidung zu beeinflussen, es ist aber selbst durch politische und kulturelle Schwächen gehandicapt.
 Der Anteil Griechenlands an der Wirtschaft der gesamten Europäischen Union beträgt nur zwei bis drei Prozent. Quantitativ betrachtet ist das unbedeutend. Mit seinem wirtschaftlichen Gewicht und seinem Know-how ist Europa in der Lage, Griechenland auf dem Wege zu seiner Sanierung zu begleiten. Das bedeutet jedoch nicht, weiterhin Geld in das bodenlose Danaerfaß des griechischen Staates zu schütten, wie es bislang geschah. Eine solche Vorgehensweise würde nur neuerlich den Parasitismus und andere Schieflagen in Wirtschaft und Gesellschaft fördern. Man muß eine globale Strategie entwickeln, die neben der Wirtschaft eine Reihe weiterer Aspekte umfaßt.
Neben Fragen der Politik und Kommunikation wäre es notwendig, daß Europa Griechenland in seinem Kampf gegen die undurchsichtigen und verborgenen Netzwerke substantiell unterstützt, die sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte herausgebildet haben. Diese vielfältigen Netzwerke, die sich bisweilen auch untereinander im Konflikt befinden, scheinen Verbindungen zum internationalen organisierten Verbrechen, zum Terrorismus sowie zu ausländischen Geheimdiensten zu unterhalten (inklusive dem Erbe der Geheimdienste der ehemals kommunistischen Länder Osteuropas); darüber hinaus scheinen große wirtschaftliche Interessen von europäischer und internationaler Seite als Komplizen im Spiel zu sein. Die gesunden Kräfte Griechenlands reichen nicht aus, um dem Druck dieser transnationalen Netzwerke allein standzuhalten, die durch die geopolitische Lage des Landes als einem regelrechten Kreuzungspunkt zwischen dem Balkan, Nordafrika und dem Nahen Osten angezogen werden.
Eine solche Strategie ist absolut vorstellbar.

(…)

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