LI 92, Frühjahr 2011
Postislamistische Zeiten
Säkulare Revolte – das Ende des arabisch-muslimischen ExzeptionalismusElementardaten
Textauszug
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Als Islamisten bezeichnen wir jene, die im Islam eine  politische Ideologie sehen, die geeignet ist, alle gesellschaftlichen  Probleme zu lösen. Die radikalsten sind von der Bühne abgetreten, um  sich dem internationalen Dschihad anzuschließen. Sie sind nicht mehr da:  Sie befinden sich in der Wüste mit al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI),  in Pakistan oder in Randbezirken Londons. Sie haben keine soziale oder  politische Basis. Der weltweite Dschihad ist von den gesellschaftlichen  Bewegungen und nationalen Kämpfen völlig abgeschnitten.  Selbstverständlich versucht die Propaganda al-Qaidas, die  Bewegung als Vorhut der gesamten muslimischen Gemeinschaft gegen die  westliche Unterdrückung darzustellen, aber das funktioniert nicht. Al-Qaida rekrutiert  entterritorialisierte junge Dschihadisten, die ohne soziale Basis sind  und alle mit ihren Nachbarn und ihrer Familie gebrochen haben. Al-Qaida bleibt  in ihrer Logik einer „Propaganda der Tat“ abgekapselt und hat sich nie  darum gekümmert, im Rahmen der muslimischen Gesellschaften eine  politische Struktur zu gestalten. Da die Aktionen al-Qaidas zudem vor  allem im Westen stattfinden oder gegen als westlich bezeichnete Ziele  vorgehen, ist ihr Einfluß in den realen Gesellschaften gleich Null.
Eine  weitere optische Illusion besteht darin, die massive Reislamisierung,  der die Gesellschaften der arabischen Welt im Verlauf der letzten  dreißig Jahre anscheinend unterlegen waren, mit einer politischen  Radikalisierung zu liieren. Wenn die arabischen Gesellschaften heute  sichtbarer islamisch sind als vor dreißig oder vierzig Jahren, wie läßt  sich dann erklären, daß bei den gegenwärtigen Demonstrationen islamische  Losungen fehlen? Hierin besteht das Paradox der Islamisierung: Sie hat  den Islam weitgehend entpolitisiert. Die soziale und kulturelle  Reislamisierung (das Tragen des Schleiers, die Anzahl der Moscheen, die  Zunahme der Prediger und der religiösen Fernsehprogramme) hat sich  unabhängig von den islamistischen Aktivisten vollzogen. Sie hat auch  einen „religiösen Markt“ eröffnet, für den niemand mehr ein Monopol  besitzt. Außerdem geht sie einher mit neuen religiösen Suchbewegungen  der Jugendlichen, die individualistisch ausgerichtet sind, aber auch  unbeständig. Kurz gesagt: Die Islamisten haben das Monopol des  religiösen Wortes im öffentlichen Raum verloren, über das sie in den  achtziger Jahren verfügt hatten.
Die Diktaturen haben oft einen  konservativen Islam begünstigt (allerdings nicht in Tunesien), der klar  hervortritt, aber wenig politisch ist und dessen Zwangsvorstellung in  der Sittenkontrolle besteht. Das Tragen des Schleiers ist zu etwas  Banalem geworden. Dieser staatliche Konservativismus stimmte mit dem  Einflußbereich des sogenannten „Salafismus“ überein, der sich auf die  Reislamisierung der Einzelmenschen und nicht auf soziale Bewegungen  konzentriert. Mit anderen Worten, so paradox dies erscheinen mag: Die  Reislamisierung hat das religiöse Kennzeichen banal gemacht und  entpolitisiert – wenn alles religiös ist, ist nichts mehr religiös. Was  aus der Sicht des Westens als eine große grüne Welle der Reislamisierung  wahrgenommen wurde, entspricht nur einer Banalisierung: Alles wird  islamisch, vom Fast food bis zur Frauenmode. Doch die Formen der  Frömmigkeit haben sich ebenfalls individualisiert: Man gestaltet seinen  eigenen Glauben, man sucht sich einen Prediger aus, der von  Selbstverwirklichung spricht, wie etwa den Ägypter Amr Khaled, und man  interessiert sich nicht mehr für die Utopie des islamischen Staates. Die  „Salafis“ konzentrieren sich auf die Verteidigung religiöser Zeichen  und Werte, haben aber kein politisches Programm: Sie fehlen in der  Protestbewegung, in deren Reihen man keine Frauen in Burka sieht (wobei  es viele Frauen unter den Demonstranten gibt, sogar in Ägypten). Andere  religiöse Strömungen, die man für rückläufig hielt, wie etwa der  Sufismus, blühen neu auf. Diese Diversifikation des Religiösen geht über  den Rahmen des Islam hinaus, wie man in Algerien oder im Iran sieht, wo  eine Welle von Konversionen zum Christentum zu erkennen ist.
Ein  anderer Irrtum besteht in der Vorstellung, die Diktaturen seien  Verteidiger des Säkularismus gegen den religiösen Fanatismus. Die  autoritären Regime haben die Gesellschaften nicht säkularisiert. Von  Tunesien abgesehen, ist das Gegenteil der Fall. Sie haben sich mit einer  Reislamisierung neofundamentalistischen Typs abgefunden. Dabei spricht  man davon, die Scharia ins Werk zu setzen, ohne sich die Frage nach der  Natur des Staates zu stellen. Überall wurden die Ulemas und die  offiziellen religiösen Institutionen durch den Staat domestiziert, wobei  sie sich auf einen vorsichtigen theologischen Konservativismus  zurückzogen. So sind die traditionellen, an der Al-Azhar-Universität ausgebildeten  Geistlichen nicht mehr an der politischen Problematik und nicht einmal  an den großen Schicksalsfragen der Gesellschaft beteiligt. Der neuen  Generation, die nach neuen Modellen sucht, um ihren Glauben in einer  offeneren Welt zu leben, haben sie nichts zu bieten. Das hat zur Folge,  daß die religiösen Konservativen nicht mehr auf der Seite der  Protestbewegung des Volkes stehen.
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