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Cover Lettre International 33, John Baldessari
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Inhaltsverzeichnis

LI 33, Sommer 1996

Kubanische Chroniken

Mit George und Aldous auf transatlantischer Visite

An irgendeinem Punkt über dem mittleren Atlantik, vielleicht in der N he des Bermuda-Dreiecks, gerieten wir in einen Zeitkorridor, eine andere Erklärung habe ich nicht. Wir hatten ein wenig Turbulenz, daran erinnere ich mich. Das Metallfutteral wand sich jammernd, wir saþen angeschnallt in Reihe 22, Sitze A, B und C, Nichtraucher. George hatte darauf bestanden. Aldous hatte ihn unterstützt. Ich selbst war Kettenraucher. Aber ich war den beiden zahlenmäßig unterlegen. Infolgedessen fügte ich mich und folgte dem Beispiel meiner beiden Begleiter. Ich schlief. Oder besser gesagt: Ich schloþ die Augen. Ich sah genau, wie der Himmel sich plötzlich milchweiß färbte, um anschließend grünlich und dann bedrohlich schwarz zu werden. Mein Körper wurde flachgedrückt und gegen die Rückenlehne gepreßt. Nach einigen Sekunden war das Ganze jedoch überstanden. Wir befanden uns über Kuba oder dem, was wir für Kuba hielten, und landeten völlig plangemäß. Es war kühler, als es unter Berücksichtigung der Jahreszeit eigentlich hätte sein sollen. Und außerdem meinte ich in der Ankunftshalle ungewöhnliche Geschäftigkeit wahrnehmen zu k nnen. Als hätte man mit unserer Ankunft nicht gerechnet, was sich später ja auch als korrekte Beobachtung erweisen sollte.

Ich ließ George und Aldous vor mir durch die Paßkontrolle gehen und schleppte ihre überdimensionierten Koffer. Immerhin waren sie so alt wie dieses Jahrhundert oder sogar noch älter. Auch war es in gewisser Hinsicht vorteilhaft, daß man sich in ihrer Nähe aufhielt. Beide verfügten sie über Papiere, wonach sie ein Institut für Zukunftspessimismus betrieben. Auf einer Insel wie Kuba verschafft einem so etwas Prestige. "Bienvenidos, Senores Huxley y Orwell", begrüßte sie der Paßkontrolleur und drückte den Stempel in ihre Pässe. Mit der gleichen Freundlichkeit behandelte er mich. Ich war Tourist und als solcher äußerst willkommen. Hätte ich mir die Rückseite meiner Einreiseerlaubnis jedoch genauer durchgelesen, hätte ich erkannt, daß dieser Text von keinem menschlichen Gehirn verfaßt worden sein konnte. Dort stand nämlich, daß mir lediglich gestattet werde, mich Ferien und allgemeinem Zeitvertreib hinzugeben. Sollte ich mein Visum für andere Zwecke mißbrauchen, werde dies in einem Einreiseverbot resultieren! Welche Satzkonstruktion zeigt, daß man hier ganz offensichtlich eine andere Zeitauffassung zugrunde legte als die normale, menschliche. Lese ich diese Worte heute, schwindelt mir vor den Augen. Allerdings ist es recht alltäglich auf diesem Globus, daß man etwas sanktioniert, dessen wir uns noch nicht schuldig gemacht haben. In diesem Fall nämlich folgte die Strafe auf dem Fuß. Beispielsweise hätte man im Dritten Reich gesagt: "Sollten sich herausstellen, daß Sie nicht-arischer Herkunft sind, werden Sie zurückgewiesen." Man wäre niemals auf den Gedanken gekommen, zu sagen: "Sollte sich herausstellen, daß Sie nicht-arischer Herkunft sind, werden Sie niemals geboren."

So aber sind wir Reisende. Wir sind müde. Wir sind damit beschäftigt anzukommen. Details entgehen uns. Recht unwesentliche Details, und wir sehen nur, was wir für Wirklichkeit halten. Wie zum Beispiel auf unserem Weg vom Flughafen in die Stadtmitte Havannas, als wir an der sogenannten Plaza de la RevoluciÛn vorüberkamen. Weder George noch Aldous waren schon einmal hiergewesen, weshalb sie zu erfahren wünschten, was es mit dieser sonderbaren Bühne auf sich habe. Ich erzählte ihnen von den stundenlangen Kundgebungen und Castros Marathonreden. George, der sie gelesen hatte, nickte und murmelte etwas von Newspeak, worin er schließlich Spezialist war. Aldous indessen, von dem ich immer gemeint hatte, er gehe den Dingen tiefer auf den Grund, bat darum, das Auto anzuhalten. Er stieg aus und sah sich um. "Massenkundgebungen", sagte er. "Hunderttausende von Füßen." "Ja, oder noch mehr", antwortete ich. "Alles, was der Revolution, statistisch gesehen, nutzen konnte." "Aber warum ist es hier dann so grün?" wollte er wissen. "Und wie kommt es, daß das Gras so hoch ist?"

Immerhin, mir selbst war das nicht aufgefallen. Doch dies war wohl der Unterschied zwischen Aldous und mir: Er war der bessere Beobachter. Tatsächlich, der Platz war grün. Zumindest an der Peripherie, aber auch ein ganzes Stück in der Mitte. Da es sich bei Gras um eine empfindliche Pflanze handelt, verblüffte mich dieser Umstand anfangs. Dann aber fiel mir ein: Castro hielt keine öffentlichen Kundgebungen mehr ab. Hatte er ausnahmsweise etwas auf dem Herzen, dann sprach er im Fernsehen oder bei Auslandsreisen, wie beispielsweise nach Dänemark, wo es relativ betrachtet mehr alternde Revolutionsanhänger gibt als irgendwo sonst auf unserer Erde. Dies erklärte ich Aldous, der nachdenklich nickte und sagte, er fühle sich an etwas erinnert, das er einmal geschrieben habe. Worauf er wieder im Auto Platz nahm und, während wir unsere Fahrt fortsetzten, in einem grauenhaftem Spanisch mit unserer Führerin zu reden begann. Sie hieß Lucia Ponce und war zwanzig Jahre alt. Außerdem war sie Mulattin und schmerzlich schön. George war sofort von ihr beeindruckt. So ist er immer gewesen, soweit ich seine Bücher kenne. Aldous jedoch, der besonders in Weiber vernarrt war, fragte sie nach Ihrer Ansicht. Auf seine etwas gewundene Frage antwortete sie, Castro sei intelligent und ein Politiker, wie es keinen zweiten gebe. Selbstverständlich sei der Alltag jedoch etwas mühsam, da es ihm nicht gelinge, Lebensmittel oder Strom oder Wasser oder Transportmöglichkeiten oder Farbe oder Baumaterial zu beschaffen, von Flöten und Ballettschuhen oder Papier für die Schriftsteller ganz abgesehen. Auch bei Seitenspiegeln für Autos oder Haken für Kräne bestehe Mangel. Die Schiffe verrosteten, und die Brücken stürzten ein. Wenn die Orangenbäume Früchte trügen, verschwänden die Orangen. Und wenn die Zuckerrohrplantagen am besten trügen, falle die Ernte mäßig aus. Es könne jedoch keinerlei Zweifel herrschen, daß Castro der beste Politiker der Welt sei. Lucia drehte sich um und warf mir einen Blick zu, als gelte es insbesondere mich zu überzeugen. Ihre Augen hatten etwas an sich, das mich ein wenig erschreckte: Ihr eines Auge war grün, das andere braun.

Wir fuhren weiter durch die Saadt, in Richtung auf das Meer und die Uferpromenade. Die Beleuchtung war sparsam, um es diplomatisch auszudrücken, und es war menschenleer. George wollte wissen, wo sie denn seien, die Menschen. Lucia erklärte, wie ich mich jetzt entsinne, ein wenig rätselhaft, daß sie sich hin und wieder hier befänden. "Meist unter Tage, wie ich vermute", sagte Aldous. So könne man es nicht ausdrücken, antwortete sie. Manche seien tagsüber hier, andere in der Nacht. Die meisten aber zeigten sich niemals. George, der immer an Verfolgungswahn gelitten hatte, meinte, wahrscheinlich habe man sie eingesperrt. Lucia schüttelte den Kopf und warf ihm einen nichtssagenden Blick zu. Ich konnte es genau erkennen: Aus ihren Pupillen leuchtete Weisheit, und ein Wissen, das sich von unserem unterschied. "Die Gefängnisse sind leer, nahezu leer", sagte sie neutral. "Castro kann sie nicht unterhalten." "Ein Diktator, der seine Gefängnisse nicht unterhalten kann!" rief George. "Wie kommt denn so etwas!" Lucia fuhr sich durch ihr krauses Haar. Und mir, ich saß hinter ihr, fielen ihre Finger auf, die länger und schöner waren als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. "Er interessiert sich nicht dafür", antwortete sie. "Als etwas Zeitweiliges, als kurzfristige Sanktion. Aber nichts für immer." George schüttelte den Kopf. "Er möchte, daß das Volk dankbar ist", vertiefte Lucia. "Und Gefangene sind so etwas selten", schob Aldous ein. "Und ob!" nickte sie und deutete auf ein hohes, glänzendes Gebäude, das sich inmitten all der Leere und der zunehmenden Dunkelheit an der Uferlinie der Stadt erhob: "Ihr Hotel", erklärte sie. "Nur für Ausländer."

Es war knapp zwei Jahre her, daß ich Havanna zum letzten Male besucht hatte. Und damals hatte es dieses Gebäude noch nicht gegeben, man könnte es also als Großtat bezeichnen, wenn ein solcher Palast in einem Land, in dem die Reparatur eines Traktors ein Jahr in Anspruch nimmt, mit einer derartigen Geschwindigkeit errichtet wird. Was ich zu Lucia sagte, als sie uns in der Lobby des Hotels verließ und auf einem chinesischen Fahrrad nach Hause fuhr. Sie jedoch erklärte mir, zur Zeit sei Castro an Hotels für Ausländer interessiert, und somit sei alles machbar. Vieles andere, und eigentlich das meiste, entziehe sich seiner Aufmerksamkeit. So aber sei es mit großen Persönlichkeiten: Sie könnten immer nur eine Angelegenheit im Kopf haben. Morgen könne dies etwas anderes sein, so wie vielleicht auch gestern. Derzeit seien es, wie gesagt, Hotels. "Und was ist mit seiner Revolution?" fragte ich. "Die interessiert ihn nicht mehr", antwortete sie knapp und gab mir die Hand, was ich freilich kaum spürte. Dann ging sie auf die automatische Tür zu und verschwand mit einem elektronischen Summen.

George und Aldous waren erschöpft von der Transatlantikreise, dennoch setzten wir uns in die Bar und bestellten drei Cuba libre. Wir kamen mit einem Mann ins Gespräch, dessen Gesicht an Gabriel Garcia Marquez erinnerte und der uns darüber informierte, daß es sich bei ihm um einen Iraker handele, wiewohl er in Kanada ansässig und nach einem Besuch in Australien auf der Durchreise sei. Als wolle er seinen kanadischen Aufenthaltsort unter Beweis stellen, bot er uns Zigaretten an, die in Toronto hergestellt waren. Im Päckchen befanden sich 35 Stück, die nach Ingwer und irgendeinem Rohstoff schmeckten, bei dem es sich wahrscheinlich um Magnesium oder Jod handelte. Aldous mochte sie, allerdings war er auf chemische Einflüsse ja schon immer versessen gewesen. George hustete trocken und erkundigte sich, was diesen irakischen Kanadier denn nach Havanna geführt habe. Der antwortete lächelnd, eben dies habe er ja schon gesagt. Er befinde sich auf der Durchreise. Er sah sich in der Bar um. "Die meisten hier sind auf der Durchreise", fügte er hinzu. "Auch die Kubaner sind auf einer Art Durchreise, ja, diese ganze Insel ist eine einzige Vorläufigkeit." George wollte wissen, ob dies nach seiner Meinung mit dem in der Nähe liegenden Bermuda-Dreieck zu tun habe. "Nein", gab der Mann zur Antwort, "aber jedes Experiment hat etwas Vorläufiges an sich." Als er das Wort Experiment hörte, wurde Aldous hellwach. "Und dann löst es sich auf und verschwindet",sschob er ein. Der iranische Kanadier schüttelte den Kopf und antwortete, dies sei nicht der Fall. Experimente verschwinden nicht, ebensowenig lösen sie sich auf. Mit der Zeit aber, sei es einer kürzeren, sei es einer längeren, änderten sie jedoch ihren Charakter und führten in der Regel zu einem völlig anderen Resultat als dem erwarteten. Sofern sie nicht zu gar nichts führten. Er fuhr fort mit der Bemerkung, selbst auf dem Hintergrund dieser bedauerlichen Tatsache seien Experimente wie jenes, in dessen Mitte wir uns gerade aufhielten, notwendig und geradezu unabdingbar.

Aldous, der, wie gesagt, nun hellwach war, wollte wissen, wie sich die Menschen, mit anderen Worten die Kubaner, zu diesem Experiment verhielten. "Sie sind stolz", antwortete der Mann. "Vielleicht sind sie eher müde als stolz, aber seit Sparta - was fast 3000 Jahre zurückliegt -, hat niemand mehr an dem Experiment einer Staatsgründung auf mystischer Grundlage teilgenommen. Und darauf sind sie stolz." George brachte den Einwand vor, im Verlauf der Geschichte habe es eine ganze Reihe sogenannter Experimente gegeben. Beispielsweise die Demokratie, oder den Sozialismus. "Wobei es sich niemals um etwas Ernsthaftes gehandelt hat", antwortete der Mann aus dem Irak respektive Kanada und lud uns zu einer weiteren Runde seiner Toronto-Zigaretten ein. "Die Demokratie und der Sozialismus beziehen sich nicht auf den STAAT, sondern, wenn es hoch kommt, auf die eine oder andere Form der Gesellschaft, auf Geld und Machtverteilung, niemals aber auf den Menschen und wie er zu seinem eigenen Besten denken und handeln muß. Um Vollkommenheit zu erreichen und in den Garten Eden zurückzukehren." George gähnte. Aldous' Augen aber strahlten. "Jetzt bin ich müde", sagte er, "aber ich möchte morgen gern mehr darüber hören, falls Sie dann noch hier sind und Zeit für ein Gespräch mit uns haben." Der Mann lächelte wieder. "Natürlich", antwortete er. "Ich bin hier, oder ich bin nicht hier." Wir verabschiedeten uns von ihm und wurden in unsere Zimmer geleitetet, die mit einem Luxus ohnegleichen eingerichtet waren. Champagner im Kühler. Toilettenpapier, Bodylotion und Shampoo im Badezimmer. All das, was sich, wie ich wußte, in der Stadt zu Füßen des Hotels nicht auftreiben ließ. Ehe ich zu Bett ging, stand ich einen Augenblick am Fenster und sah auf die Küstenlinie und auf das Meer. Auf der Balustrade saß ein junges Paar, fast miteinander verschmolzen. Ich vermute, daß sie glücklich waren. Für einen kurzen Augenblick wurde ich in meiner Aufmerksamkeit von einem Geräusch im Badezimmer abgelenkt, und als ich wieder dorthin sah, wo sie einander eben noch so innig geküßt hatten, waren sie verschwunden und von der Dunkelheit verschluckt.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024