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Cover Lettre International 47, John Baldessari
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Inhaltsverzeichnis

LI 47, Winter 1999

Die Sprache der Zeit

(...) In der 1920 entstandenen Parabel Er kombiniert Kafka die beiden Bilder zu einem dritten, das den Widerspruch explizit macht. In der Übersetzung von Hannah Arendt läßt Kafka Vergangenheit und Zukunft aus entgegengesetzter Richtung aufeinanderstoßen:

Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen, und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick -  dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war -  aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird."

Kafka beschreibt seinen »Er« als das einzige Wesen, das zwischen Vergangenheit und Zukunft steht. Ihn und ihn allein trifft die volle Wucht der Kräfte, die ihn von beiden Seiten gleichzeitig bedrängten. Die Vergangenheit ist nicht die »tote Last des Vergangenen«, sondern eine lebendige Kraft, die den Mann in die Zukunft stößt, während die ebenso lebendige Zukunft keineswegs auf ihr Eintreten wartet, sondern ihn in die Vergangenheit zurückstößt. Vergangenheit und Zukunft sind in diesem Bild wahrhaftig im Krieg miteinander, beide versuchen den Boden zurückzuerobern, den sie verloren haben, als sie sich in ihrem Kampf mit dem Mann verbündeten. Die Parabel verrät uns nicht, ob der Ursprung in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, denn beide sind mit der verallgemeinernden Bezeichnung »Gegner« maskiert. Und während der Mann eindeutig ein Mitkämpfer ist, bekommen wir nicht einmal den Hauch einer Andeutung, welche der beiden Mächte, die Vergangenheit oder die Zukunft, obsiegen wird. Natürlich wird man annehmen, daß zwei gegen einen unter normalen Umständen größere Gewinnchancen haben. Aber während sowohl Vergangenheit als auch Zukunft den Mann im Kampf gegen das jeweils andere unterstützen, ist das »nur theoretisch« so. Denn die Stoßrichtung, die der Mann anstrebt, bleibt unbekannt, und wahrscheinlich auch ihm selbst.

Wir unterliegen der starken Neigung, Parabeln wie Er zu lesen, als wären sie angefüllt mit Bedeutung über das Wesen des Menschen, und der Drang, mit Hilfe einer Umschreibung auszudrücken, was sie unserer Meinung nach »wirklich bedeutet«, scheint unwiderstehlich zu sein. Selbst wenn die Parabel so mehrdeutig oder rätselhaft ist wie Er, spüren wir häufig den Drang, die Pole ihrer gegensätzlichen Bedeutungen zu benennen oder wenigstens den Gegenstand der Verrätselung beim Namen zu nennen.

(...)

Vor zwölf Jahrhunderten wurde die scheinbar tiefe philosophische Frage gestellt: »Wie wird man frei?« Der chinesische Zen-Meister Schi-tou antwortete mit einer Gegenfrage: »Wer hat dich gefesselt?« Die Antworten auf den Ku-an des Schi-tou (und es gibt deren viele) sind nicht tief -  sie sind so banal und alltäglich wie eine Gefängniswand, der leere Bauch eines hungrigen Kindes und die Gier, die sich täglich damit rechtfertigt, daß das, wonach ihr verlangt, Notwendigkeiten seien. Aber trotz ihrer Alltäglichkeit können wir diesen und ähnlichen Antworten vielleicht alles entnehmen, was wir brauchen, um zu verstehen, wer oder was uns zu Boden drückt. Die Befreiung des Menschen mag möglich oder unmöglich sein - je nach den Bildern von »Befreiung« und »Möglichkeit«, die wir zum Maßstab nehmen, aber nicht im Sinne eines tiefen Wesens der Zeit und einer menschlichen Freiheit, das wir nicht stets zuvor selbst festlegt haben, in Gestalt einer Begriffsbestimmung dessen, was wir als »tiefes Wesen der Zeit und der menschlichen Freiheit« zu akzeptieren gewillt sind. Es wäre nicht gerecht, die Sichtweise des Schi-tou als Nominalismus zu bezeichnen, weil er nicht behauptet, daß es stets zweierlei gibt, die Bezeichnung für das, was uns versklavt, und das, was damit bezeichnet wird. Es wäre auch nicht gerecht, ihn einen Pragmatiker zu nennen, denn er behauptet auch nicht, die menschliche Misere lasse sich mit diesen zwei anderen Fragen erfassen: wie wir sind, wenn wir versklavt sind und wie wir sein könnten, wenn wir frei wären. Andererseits behauptet Schi-tou keineswegs, daß es nur eins gibt. In Antwort auf die Frage: »Wie wird man frei?« fragt er nur zurück: »Wer hat dich gefesselt?«, ohne damit etwas zu behaupten. Vielleicht war er im Besitz einer Weisheit, die der Westen noch ergründen muß. Vielleicht ist der Dualismus zwischen dem einen und dem anderen weder wahr noch falsch. Vielleicht ist es das, was wir Menschen als den »Dualismus zwischen diesem und jenem« bezeichnen. Und vielleicht ist es möglich, eine Perspektive einzunehmen, von der man sehen kann, daß es so ist, nicht in Gestalt einer These oder Theorie, sondern als eine Lebensäußerung in sich.

Eine kurze Alternativdeutung von Kafkas Er wird diese Sicht erhellen. Da diese Deutung bewußt die englische Übersetzung des Textes für ihre Zwecke nutzt, versteht es sich von selbst, daß er hier nicht darum geht, die Tiefen der Parabel auszuloten, die sie ohnehin aufweist oder die Kafka in irgendeiner Weise intendierte. Die Deutung lautet folgendermaßen:

Der Mann kämpft nicht mit der Zeit, sondern mit den Bildern, die er sich von der Zeit gemacht hat. Er wird nicht von den Mächten Vergangenheit und Zukunft bedrängt, sondern von der Macht, die er seinen eigenen Worten eingeräumt hat. Vergangenheit und Zukunft fallen über ihn her wie der Geist aus der Flasche, aber er merkt nicht, daß es nur ein Papiergeist ist, auf dem die Worte »Vergangenheit« und »Zukunft« geschrieben stehen. Ringsum von Worten und Bildern bedrängt, träumt er nicht davon, Raum und Zeit in Gedanken zu transzendieren, wie Hannah Arendt es sieht, sondern den Traum, die Sprache zu transzendieren -  in einer Wachheit, die nicht mit Denken gleichzusetzen ist und die nicht das Bedürfnis hat, sich als »Wachheit« zu artikulieren. In diesem Traum erfüllt der Richter wieder die Bedeutung des mittelfranzösischen Worts nomper (der Nicht-gleiche) - der Mann wird wirklich zu einem Nicht-Gleichen, wenn er davon träumt, über seinen Gegnern zu stehen. Er ist nicht mehr gleich, weil sie Bilder sind und er ein Mensch. Er sieht, daß sie weder tiefgründig noch banal sind und daß er allein verdient, tiefgründig oder banal genannt zu werden, wenn er sich ihrer bedient. Und kurz bevor er aus diesem Traum erwacht, erkennt der Mann schließlich (mit der absoluten Gewißheit, die wir im Traum manchmal empfinden), daß es absurd ist, die Bilder, die man selbst geschaffen hat, zu verehren oder zu tadeln.

(...)

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