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Cover Lettre International, Adriana Molder
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LI 104, Frühjahr 2014

Italienische Reise

Wunder über Wunder, ein summender Bienenkorb der Assoziationen

(…)

So bin ich, diese fröhliche Geschichte überspringend, in das Land Italien geschritten, geradewegs an den Kai der Hafenstadt Triest, wo Leonor Fini gemalt, Ettore Schmitz geschrieben und im nahen Schloß Rilke voller Wehmut sein liebliches Soliloquium gedichtet hat. Schon jahrelang begleite ich das Volk von Triest, das jeden Tag ausstirbt, pünktlich um 13 Uhr 30, sich hinter seinen Vorhängen begräbt, und dann, gegen halb vier nachmittags, ist da plötzlich eine neue Generation dieses populus, der, schön angezogen, seine Geschäfte öffnet, Kaffee trinkt und wieder lebendig ist. So habe ich dieses Land mit der hohlen Hand aufgenommen, wie man klares Wasser an der Quelle schöpft. Im Norden, im Valle d’Aosta, habe ich auf verwunschene mittelalterliche Burgen gestarrt, auf lila Gipfel, schneebedeckt, und dann in einem kleinen Dorf bis tief in die Nacht zugesehen, wie der kostbare Käse Fontina hergestellt wird. Auf einem Berg oberhalb von Bolzano habe ich in einem Lokal, das Gäste nur nach Anmeldung empfängt, das süße Gericht gekostet, das man, auf althergebrachte Art, nur gemeinsam ißt, aus derselben Schüssel. Das Land Italien habe ich sachte gezähmt, wie ein Haustier, und umgekehrt hat auch es mich langsam angenommen. Ich weiß, daß ich in meiner frühen Jugend, als man mir in einer Triestiner Osteria die erste Pasta mit Venusmuscheln vorsetzte, äußerst skeptisch war; es kam mir so vor, als schauten mich aus dem Teller eine Unmenge von Kinderaugen an. In einem romanischen Kirchlein in der Nähe, dort in Alto Adige, sah ich auf einem schon blassen Fresko aus dem 3. Jahrhundert einen vergnügten Heiligen, der ewig auf seiner Schaukel durch die Jahrhunderte schaukelt. Kaum jemand hat ein derart verspieltes Aussehen wie dieser heilige Procolo und geht so ungezwungen einem kindlichen Vergnügen nach. Als wäre die alte Epoche schon dadurch lustig gewesen, daß die heutigen schweren Zeiten nur eine unabsehbare Perspektive waren. Fröhlich sind auch die Kinder mit dem Ball und die Jungfrauen auf dem unübersichtlichen Mosaik, dem römischen, in Piazza Armerina. Die zu Beginn des ersten Millenniums ihr Ritual in ganz modernen Bikinis ausüben, wie am Strand der Copacabana. In einem Winter habe ich am Misurinasee den schönsten Schmuck gesehen, den der Januar aus Eis herstellt, violett und resedagrün. Die großen Baumeister der Gotik und der Renaissance haben nicht nur ihre grandiosen Türme und Kirchenkuppeln (manchmal der päpstlichen Tiara ähnlich) errichtet, sondern gleichzeitig, in einem kindlichen Traum, Miniaturalternativen zu diesen konstruiert, sakrale Puppenhäuser, Modelle davon.

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In der Gegend um Monselice ging ich mir den Stuhl ansehen, in dem Petrarca gestorben war. In jenem Gebiet, unwegsam und mit Silizium im Boden, wo man sagt, die Mütter brächten ihren Kindern nicht das Sprechen bei, sondern lehrten sie wie Taubstumme, sich mit den Fingern zu verständigen, dort, im Haus des Dichters, gibt es hoch oben an der Wand auch eine Kiste mit dem Skelett, dem gut erhaltenen, seiner Katze. Ich war auch im Ohr des Dionysos, einer Höhle bei Syrakus, im Museo Civico in Sansepolcro, wo Pieros Christus siegreich aus dem Grab aufersteht und in der Hand die Fahne seiner Kirchenpartei hält, nur habe ich es nicht geschafft, Mantegnas Fresko in der Ovetarikapelle in Padua zu sehen, die Bomber der Amerikaner sind mir zuvorgekommen. Ein wunderliches Gebäude von Palladio kam mir vor wie ein vergrößerter Tisch – hat er nicht, ziemlich verrückt, sein eigenes Haus ohne Fenster gebaut, weil er sich furchtbar vor Donner fürchtete? Die toskanische Landschaft, die schon Goethes Auge blendete, hat vortrefflich jede Vedute Leonardos vertreten. Dann saß ich im Paduaner Caffè Pedrocchi, wo vor 150 Jahren Politiker des Risorgimento, lokale Poeten und kleine Provinzschauspielerinnen Venetiens residiert haben. Und wo es an einer Wand ein Bild von unserem Globus gibt, nur daß die nördlichen Teile ganz nach unten geraten und die südlichen nach oben geklettert sind. Wie in diesem Land vieles durcheinander und schief ist. So steht nicht nur der Turm von Pisa schräg, sondern auch mehrere verrückte Häuser eines manieristischen Traums in Stein, im Park von Bomarzo. Eine römische Dame fuhr mich dorthin, in diesen verwunschenen Wald bei Viterbo, wo Ungeheuer aus Gips, wie von der Pariser Kathedrale heruntergenommen, und irgendwelche surrealistischen Steindrachen, fast wie von Breton ersonnen, Grimassen schneiden. Und wo der aufgesperrte Rachen eines Monstrums einer Garageneinfahrt gleicht. Wie kann man im übrigen auf dem schiefen Platz in Arezzo umhergehen? Viele Phantasien weckte dieser Boden, dieser italienische, in mir, jahrelang. Ich war sicher, daß im Manuskript der Sonette von Michelangelo, dort unter dem Glas der Vatikanischen Bibliothek, die Zeichnung einer Landschaft verborgen ist. Durch winzige Öffnungen, ähnlich wie Schießscharten, habe ich in dem kleinen Ort Oasa ein geschlossenes Vogelparadies beobachtet. Wo alles schweigend verlaufen muß, fast kartäuserhaft, damit nicht ein Fink oder Stieglitz belästigt wird.

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Was den Kaffee betrifft, trinke ich ihn lieber dort, wenn ich die Spanische Treppe herunterkomme, neben dem Haus von Shelley, im Caffè Greco. Vor allem, wenn ich Glück habe und in dem Moment fast keine Gäste da sind. Es gibt eine Person, die jeden historischen Ort unerträglich findet; mich stört das nicht im geringsten. Weil ich denke, daß die Geschichte ihre Wege geht und ich meine und wir uns an einem solchen Ort, der ihr gehört, gar nicht treffen müssen. Deshalb trinke ich meinen Kaffee im Sitzen und in aller Ruhe, ungeachtet der Spiegel, die mich von allen Seiten anschauen. Und die den berühmten Dichter Belli angeschaut haben, der im römischen Dialekt schrieb, worüber sich Crnjanski ebenfalls äußert. Und der genauso manchmal das Bedürfnis hatte, irgendwo allein, ohne jemanden zu sein, wenigstens für einen Moment. Am Ende des Lebens brechen aus dem Menschen seltsame Neigungen hervor, wie aus Tiberius. Man sucht eine Insel, wo es keine Menschen gibt.

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Danach gehe ich, mitten in der Lektüre von Crnjanskis Buch, los, um Moses zu sehen, den von Michelangelo, in der alten Kirche San Pietro in Vincoli, als wollte ich kompensieren, was bei Crnjanski nicht vorkommt. Um dort hinzugelangen, mußt du Treppen hinaufsteigen und durch eine Gasse gehen, die mich an Rijeka und Pula erinnert. In der Kirche steht, eigentlich sitzt, der judäische Prophet schon ein halbes Millennium, und der Blick, melancholisch, also nicht mediterran, sondern hyperboreisch, mitteleuropäisch, sogar nordeuropäisch, ist der Blick Michelangelos, eines Greises, der jeden Glauben und jeden anderen Gedanken verloren hat, außer den an den Tod im Nebel, fern vom Leben in Florenz (wo Tulpen blühen und Glyzinien herabfallen), an den eisig-europäischen Tod, den nordischen und aussichtslosen für den Menschen. Da meißelt sich der Alte selbst in seiner steinernen Einsamkeit, er selbst, Stein, der seinen melancholischen, neurotischen und idiotisch fruchtbaren Gedanken denkt, wie er sich auch selbst in dem kleinen Kind der Brügger Madonna gemeißelt hat, in dem Kindlein, das erst noch Jesus werden soll, das aber schon damals, virtuell, den abgeflachten Nasenknorpel hat, den von Buonarroti. Obwohl das dem Bildhauer selbst erst mit 15 passiert ist. Der kleine Jesus hat, ohne es zu wissen, bereits den Fausthieb erhalten, der Michelangelo tatsächlich getroffen hat, und unter diesem Hieb lebt er wie der Bildhauer im vorhinein mit einer schiefen Nase. Buonarroti flüstert seinem Helden zu, daß er nicht nur geschlagen wird, sondern noch etwas viel Schlimmeres erleben wird: Christus zu sein. Wie Moses zeigt Buonarroti, was Melancholie in seinem Herzen bedeutet, wie auch Jesus, das Kind in Brügge, in seinem ansonsten schönen Gesicht die Wunde seines Stolzes präsentiert und seinen Komplex, wie der Professor aus Wien vier Jahrhunderte später sagen würde. Ich will sagen, daß er [Buonarroti] für allezeit seine Melancholie nach Rom eingeführt hat. Woher weiß ich das? Weil er nicht einmal wußte, woher seine eigene Melancholie kam, die von Crnjanski, fand sie sich in diesem Buch über die heitere Ästhetik der Renaissance. Rom ist in der Renaissance auf florentinische Art erblüht, alles leuchtet von Skulpturen und Farben und Prachtbauten, raphaelisch brillant, und in der kleinen Kirche in Vincoli sitzt der alte melancholische Riese, der judäische Prophet, und weiß nicht, was er mit sich oder mit seinem Prophetentum anfangen soll. Dürer ging sich, als er durch die Stadt Brügge kam, die Madonna von Michelangelo ansehen, um dort, im Norden, in seiner ebenfalls nordischen Skepsis, etwas von einem Meister aus dem Süden, aus der blühenden Stadt Florenz, zu lernen.

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