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Lettre International 134, Kubra Khademi
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Inhaltsverzeichnis

LI 134, Herbst 2021

Billie Holiday

„Ich habe für alles selbst bezahlt“ – Vom Leben einer bizarren Göttin

(…)

Um das Jahr 1943 war der Pomp der Stadt im kalten Mondlicht einer Winternacht von durchaus harmloser Art. Jugendliche waren damals schon im Bett, und das einzig Bedrohliche war, ästhetisch gesehen, die Stadtlandschaft. Schmutziger Schneematsch im Rinnstein, ein verloren gegangener schwarzer Überschuh, ein weißes Höschen, das vielleicht aus einem vorüberfahrenden Auto geflogen kam. Mit der Musik verknüpft und nicht von ihr zu trennen waren mörderische Ausschweifungen, die bis auf die Knochen auszehrten. Und immer ihre strahlende Selbstzerstörung.
     Als wir sie zum ersten Mal sahen, war sie fett, aufgequollen, großartig wunderschön fett. In diesem Augenblick, der wohl nie wiederkommen würde, schien sie eine Art gestandene Frau zu sein, jemand, der mitten im Leben stand und vernünftig war, der Geld sparte, Verträge unterschrieb, passende Vorhänge hatte, den Schrank voller Kleider und paarweise Schuhe, gold und silber, schwarz und weiß, griffbereit. Welch ein befremdlicher, irreführender Eindruck das doch war, ein Aberwitz, denn nie war ein weibliches Wesen weniger Frau oder Mutter, weniger anhänglich; es fiel ihr sogar schwer, sich als Tochter zu geben. Nichts erinnerte an den kläglichen Liebreiz eines jungen Mädchens. Nein, sie war prächtig, düster und einsam, obwohl natürlich nie allein, niemals. Imposant, finster und zu allem entschlossen.
     Die fett nachgezeichneten Lippen, die glänzenden Lider, das aufdringliche Parfüm – und in ihrer Stimme all die verführerischen l und r. Ihre Erscheinung, ihre Stimme schuf eine große, bombastische Beklemmung. Lange rote Fingernägel und der Klang elektrisch verstärkter Gitarren. Hier stand eine Frau, die nie Christin gewesen war.
Als Teil eines weißen Publikums davon zu reden, sie „gekannt“ zu haben, wäre pure Anmaßung; und doch gibt es viele zurückhaltende und verständige Menschen, die Bruchstücke von Erinnerungen durchaus „persönlicher“ Art haben. Bisweilen ist ihnen irgendein Austausch im Gedächtnis geblieben. Und immer die laszive Gardenie, die sie wie ein großes, weißes, wunderschönes Ohr trug: das laute Lachen, fabelhafte Zähne und der prächtige, archaische Kopf, der direkt aus der Ägäis aufgetaucht zu sein schien. Manchmal färbte sie ihr Haar rot und die Locken lagen eng am Schädel an, wie getrocknetes Blut.
     Am Anfang der Woche waren die Clubs „tot“, so nannten sie das. In den kalten Augen der Besitzer spiegelte sich die Angst vor der Pleite, die im ganzen Raum greifbar war. Diese Männer, immer wieder andere, waren erschöpft von durchgängig zwecklosen Kalkulationen. Häufig waren sie so kurz Besitzer, daß die Tinte unter ihrer Konzession kaum Zeit hatte, zu trocknen. Am Anfang schaufelten sie hoffnungsfroh Geld in die eigenen Taschen, verfielen aber bald der Apathie eines Bankrotteurs. Die Barkeeper – dünn, wachsam, hartnäckig korrupt, mißgünstig, schweigsame Diebe. Unstete Soldaten, betrunken und gequält, Musiker sowie ein paar Leute, Paare, die einander fratzenhaft in die Augen starrten, als wären sie an diesem Ort sicher.
     Für meinen Freund und mich, ein schräges und kompliziertes Paar, das wir waren, bedeuteten stille Nächte keine reine Freude. Indem wir unsere Treue zeigten, schien es, als würde sich eine Art treibende Kraft herauskristallisieren, als gäbe es unter dem Schmelz der Oberfläche uralte Muster aus einer verlorenen Welt zu entdecken. Der Kopf müht sich, die Leerstellen der Geschichte wiederzuentdecken, und unsere blassen graugrünen Augen schauten in ihre schwimmenden, düsteren, unberechenbaren Seelenfenster – und nichts schaute zurück.
     In diesen beschaulichen Nächten und ihrer Gegenwart war es möglich, die Abgründe ihres Unglaubens zu erfahren, manchmal war die niederträchtige, grausame Freiheit eines tiefen Mißtrauens gegenüber dem Schicksal zu spüren. Und doch wich ihr Herz immer wieder vor der Kraft ihres Willens zurück und den Katastrophen, die er heraufbeschwor. Eine Neigung zu mörderischen Erfahrungen nötigte sie, zwar in der Gesellschaft von Menschen, aber ohne Zuneigung zu leben. Ihr Talent und ihr brillanter Kopf wetteiferten mit der Kraft der Leere. Nichts sollte diesen ihren ureigenen Nihilismus beeinträchtigen; und so ist es in gewisser Weise entwürdigend, sich vorzustellen, daß sie in den Texten ihrer Songs lebte.
     Ihre Botschaft war eine andere: Stil. Und das schon, seit sie mit 15 angefangen hatte zu singen. Es ändert nichts am Triumph ihrer großen Anstrengung, an der Wiederkehr aus der Düsternis des reinen Stils, der wunderbaren Entdeckung zu sehen, daß sie genau das in „… I love my man, tell the world I do …“ übte. Es kam mir befremdlich vor, brachte mich geradezu ins Schwanken zu wissen, daß sie keinen Mann hatte, daß sie niemanden liebte. Man hatte auch häufig den Eindruck, der einen erstarren ließ, daß ihre eigenen Leute, die sie umgaben, Angst vor ihr hatten. Sie selbst schämte sich – oder es verwirrte sie eher –, daß sie nicht sentimental war.

(…)

Die schiere Ungeheuerlichkeit ihrer Laster. Deren Zügellosigkeit. Man muß sich der großen Zerstörung als würdig erweisen. Ihr skrupelloses Talent und die üppige Verwüstung. Über der schwersten Heroinabhängigkeit errichtete sie die Mauern ihres Mausoleums mit Unmengen von Scotch und Brandy. Ihr Bedarf daran war weder Tag noch Nacht zu stillen, außer wenn sie schlief. Es schien niemand für nötig zu halten, sie zu bitten, damit aufzuhören oder sich wenigstens einzuschränken. Sie sprach mit kalter Wut von verschiedenen Entziehungskuren, die man ihr aufgezwungen hatte, wozu sie im Brustton der Überzeugung – und als hätte sie alles Recht der Welt auf ihrer Seite, da man sie gerade beraubt hatte – sagte: „Und ich habe für alles selbst bezahlt.“ Am Tag ihrer Entlassung aus dem Federal Women’s Prison in West Virginia gab sie, aufgedunsen von der kartoffellastigen Diät, ein Konzert in der Town Hall, um sich Geld zu besorgen und noch am selben Tag wieder anzufangen.
     Aber selbst ihre Authentizität wurde gelegentlich untergraben. Eine Einladung zum Chili – welch unwahrscheinlicher Befehl. Wir fuhren hinauf nach Harlem, als die Wintersonne sich gerade schwarz färbte. Abgedunkelte Fenster mit dünnen Lichtstreifen über den Simsen, um die Straße im Auge zu behalten. Drinnen waren die Flure düster und leer, nur erfüllt vom Staubgeruch. An uns, die Gesichter vom Frost gebleicht, in dünnen Mänteln und schwarzen Handschuhen, klebte die missionarische Zurückhaltung glöckchen-klingelnder Mitglieder einer religiösen Sekte, eine Entschiedenheit, eisig, zaghaft und doch pedantisch von Tür zu Tür zu gehen. Unsere gefrorene Angst und Faszination führten uns in die Tiefe der mehr toten als lebendigen Mietskaserne hinein. Das Haus war von der Polizei abgesperrt, und als wir eintraten und ihren Namen flüsterten, starrte uns ein Polizist mit grimmiger Ungläubigkeit an. Die Polizei hielt sie unter Beobachtung, aber dieses Mal ging es nicht um sie. Die Katastrophe hatte sich irgendwo treppauf, hinter einer anderen Tür ereignet.

Wechselbalg
Auf dem Plattenteller drehten sich ihre Platten ununterbrochen. All ihre Wohnungen waren, im reinsten Sinn des Wortes, Provisorien. Aber sie erfüllte selbst ein düsteres Hotelzimmer mit einem stechenden, dämonischen Gewicht. Zu jener Zeit lebte sie mit einem Trompeter zusammen, der kurz vor dem Durchbruch stand und bald darauf völlig von der Bildfläche verschwand. Er war spindeldürr und sein reizendes, rundes, helles Gesicht mit den ängstlichen, leuchtenden, runden Augen sah wie eine Opfergabe aus, die auf seinen Hals gespießt worden war. Aus dem Schlafzimmer kam sein jüngerer Bruder, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Der junge Mann war klein, dünn, vielleicht in den Zwanzigern und in eine Vielzahl von Beschäftigungen eingebunden. Er war eine Art hektischer Hermes, der im Hades arbeitete, jetzt Zigaretten kaufte, dann wieder ins Schlafzimmer ging, um gleich fast unhörbar zu telefonieren und etwas zu bestellen oder anzuordnen, und das alles mit einer hellen, zittrigen Stimme.
     „Lady ist ein wenig verspätet. Sie hat sich zuviel zugemutet.“ Stöhnen und Husten aus dem Schlafzimmer. Im Licht der pfirsichfarbenen Lampenschirme war ein verblichen rosafarbenes, ramponiertes Sofa zu erkennen. Eine Muschel, von der Geburt irgendeines Krustentiers noch immer rot angelaufen, war voller Zigarettenstummel. Ein Strumpf auf dem Boden. Und ein Plattenspieler, der sich drehte und drehte, die leuchtende Klarheit ihrer Songs. Rauch und Parfüm und irgendwo ein schlagendes Herz.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024