LI 57, Sommer 2002
Nach dem Dotcom-Crash
Der Internethype und die Kunst der Geldvernichtung. Eine BilanzElementardaten
Textauszug
 (...) In der Retrospektive präsentieren sich die Dotcoms als Allegorien auf  die „gierigen Neunziger". Start-ups im Internet bündelten die  Mythologien des unternehmerischen Risikos mit dem Versprechen, „Wohlstand  für alle" zu schaffen. In einem sich stetig ausdehnenden  Technologieuniversum gab es für jeden einen Platz an der Sonne. Die  Dotcom-Saga handelt davon, wie aus Technologie Pop wird. Der  Computerfreak und der Day-Trader, der von zu Hause aus blitzschnelle  Geschäfte auf dem Aktienmarkt tätigt, sind ihre Helden, der  Risikokapitalist tritt als Pate auf. Für eine kurze Zeit zwischen 1998 und 2000 erschien die Rhetorik der  New Economy als heiß und glamourös. Die Aktien der Technologiebörsen  gerieten ins Radar der Massenmedien, Wirtschaftsmagazine wie Red  Herring, Fast Company, The Industry Standard und Business  2.0 wurden aufmerksam verfolgt. Überall konnte man Berichte aus  dem Netz lesen, sie erschienen in Unterhaltungsressorts, auf  Medienseiten und in speziellen Beilagen, die sich mit dem Computer  beschäftigten. Das Internet hatte schließlich die exklusive Domäne der  Experten verlassen und war in der Wirtschaft angekommen. Die Hausse der späten Neunziger überzeugte Analysten, Investoren,  Wirtschaftsprüfer und sogar staatliche Behörden davon, daß es nicht  nötig ist, die konkreten Praktiken von Unternehmen zu hinterfragen,  solange die Aktienpreise sich auf hohem Niveau bewegen. Das änderte sich  drastisch im Jahr 2000. Während sich die Medien nach dem März 2000 auf  die ständig wachsende Zahl von Dotcom-Bankrotten konzentrierten, wurden  diese Einzelfälle im Jahr 2002 durch eine weitaus größere, umfassendere  Rezession überschattet sowie durch schwerwiegende Zusammenbrüche wie die  des Energieunternehmens Enron und des  Telekommunikationsunternehmens Global Crossing. Der Niedergang Enrons wurde als erstes Lehrstück der Ara  nach dem Boom verstanden. Die enorme Resonanz, die er in den Medien  hervorrief, zeigt einen symbolischen Wendepunkt an, nach dem 11.  September waren Zuversicht und Optimismus geschwunden. „Als ob es  bestätigen wollte, daß eine Ara zu Ende gegangen war, implodierte das  siebtgrößte Unternehmen des Landes, das sich neu erfunden hatte, indem  es die Werkzeuge der Stunde nutzte – Technologie, den Glauben an den  Markt, heimliche Lobbyarbeit und die Fähigkeit, Deregulierung zu nutzen,  um neue Geschäftsfelder zu schaffen", so Richard W. Stevenson von  der New York Times. Laut Bill Keller „verkörperte Enron den Kult des  Schnell-obszön-reich-Werdens, der an der Schnittstelle von digitalen  Technologien, Deregulierung und Globalisierung entstand. Enron ritt auf  der Zeitgeistwelle, die durch Geschwindigkeit, Hype, den  Neuigkeitsfaktor und Angeberei charakterisiert war." Einst sei Enron  ein Unternehmen gewesen, „das kreativ dachte, Paradigmen  verschob und Märkte schuf. Es führte vier Jahre hintereinander sogar die  Hitliste der innovativsten Unternehmen Amerikas an, die von neidischen  Firmenkollegen jährlich mittels einer Umfrage gewählt werden." Das  Kerngeschäft Enrons war seine Web-basierte Plattform, auf der  mit Energie gehandelt wurde. Das Internet hatte sich hierfür als ideales  Vehikel herausgestellt. Der blinde Glaube an die New Economy war  paradigmatisch geworden für die Alles-ist-möglich-Attitüde der neunziger  Jahre. Manche sahen als Ursache hierfür den Liberalismus der sechziger  Jahre, die Wiedergeburt des Materialismus, Clinton oder gar die  Umweltbewegung. Keller: „Öl war hoffnungslos uncool geworden; Derivate waren  heiß. Unternehmen wurde geraten, das schwere Gepäck der harten  Vermögenswerte wie Fabriken oder Ölfelder loszuwerden, die sich im  digitalen Weitsprung nur als hinderlich erweisen würden, und sich  stattdessen auf Markenbildung und PR zu verlassen."  Wirtschaftsprüfer, die darauf beharrten, die Disziplin der Bilanz walten  zu lassen, wurden als „Erbsenzähler" abgetan, die im alten  System gefangen waren. In der Wall Street setzte man auf neue Methoden,  um den immateriellen Genius der Innovation zu messen: Der wichtigste  Modus zu seiner Erfassung wurde das tägliche Zucken der Börsenkurse. Als  die Aktien in den Keller fielen, starb Enron auf der Stelle. Die liquide Modernität war nicht krisenfest. Keller faßt den  Stimmungswechsel in Worte, die sich radikal vom Denken der Jahre zuvor  unterscheiden: „Je lauter heute jemand ‘Freie Märkte!’ ruft,  desto akribischer will man sich seine Bilanzen ansehen (falls sie noch  nicht im Reißwolf gelandet sind)." Schließlich wurde gar die  grundlegende Frage nach Sinn und Zweck eines Unternehmens gestellt: Ging  es nur darum, Geld zu machen, oder darum, Werte zu schaffen und der  Kundschaft eine Dienstleistung anzubieten? Plötzlich wurde ein  grundlegender Unterschied sichtbar zwischen „Feuerwehrleuten, die  ihre Pflicht taten, ohne lang und breit über Pensionen für Witwen zu  diskutieren, bevor sie ins brennende Gebäude gingen, und den Managern  von Enron, die ihre Aktien verkauften, als die Kurse sanken,  ohne ihre Angestellten zu warnen, die daraufhin unter anderem ihre  Altersrenten verloren." Als Option, sich aus der Krise herauszureden, erwies sich die  Unterscheidung zwischen dem „reinen" und unschuldigen, spirituellen und  alternativen (kalifornischen) Internet und der „schmutzigen",  geldwaschenden und spekulierenden Mafia von der Wall Street. Der Wired-Redakteur  Kevin Kelly, der die 1998 erschienene Bibel New Rules for the New  Economy (deutsch: NetEconomy) verfaßt hatte, verwischt  rückblickend jede Spur einer persönlichen Mitverantwortung an der  Affäre. „Drei Billionen Dollar an der Technologiebörse Nasdaq verloren,  500 Dotcoms gescheitert und eine halbe Million High-Tech-Jobs  verschwunden. Selbst die Kunden auf der Straße sind nicht gerade  begeistert von technischen Apparaten, die sich durch nichts voneinander  unterscheiden, und Bandbreiten, die niemals kamen", schreibt Kelly  im Wall Street Journal. „Der jetzt skeptische Blick auf das  Netz ist – so vernünftig er auch sein mag – dennoch genauso  unangebracht wie die frühere Ansicht, mit dem Internet könne es nur nach  vorn gehen. Das Internet ist weniger ein Geschöpf, das von der Ökonomie  gesteuert wird, als vielmehr ein Wunder und ein Geschenk." Hastig rennt Kelly den CEOs (Chief Executive Officers)  davon, mit denen er sich in den boomenden Neunzigern noch gerne abgab.  Um seine eigene Beteiligung zu verbergen, preist er schließlich das Heer  der Amateure, die Websites bauen: „Zwar sind die 50 populärsten  Websites auf krasse Weise kommerziell, die meisten der 3 Milliarden  Websites, die auf der Welt existieren, sind es aber nicht. Nur 30  Prozent der Seiten im Web wurden von Firmen wie etwa pets.com erstellt.  Der Rest wurde aus Liebe gebaut, wie etwa care4pets.com oder responsiblepetcare.org.  Die Antwort auf die Frage, warum Menschen innerhalb von 2 000 Tagen  drei Milliarden Websites gebaut haben, ist einfach zu beantworten: Sie  wollten teilen." Vielleicht sind solche Sonntagsreden ein Trost für  diejenigen, die alles verpaßt oder alles verloren haben. Voluntarismus  wird die Strafe für alle in Haussestimmung begangenen Sünden sein. (...) Während der Dotcom-Welle „wurden die Arbeitnehmer vollkommen von  ihrer Gier übermannt", erklärte ein Profi aus der IT-Branche der Australian  Financial Review. „Sie verlangten hohe Gehälter, wechselten  alle zwölf Monate den Arbeitsplatz – und jetzt müssen sie zurückzahlen."  Unter Beobachtern spricht man von Vergeltungsmaßnahmen, die unter  Büroangestellten zu Depressionen führen. „Plötzlich werden die  Lieblinge der neuen von der alten Ökonomie überholt. Wenn du eine  Drehbank bedienen oder eine Betonplatte gießen kannst, bist du ein  gesuchter Mann", erklärt der Reporter der Financial Review.  Denn auch Wissensarbeiter sind „den Kräften von Angebot und  Nachfrage unterworfen". Der alte Hut, der hier als Offenbarung verkauft wird, kann nur im  Kontext des Versprechens auf ein ewiges Hyperwachstum verstanden werden.  Die Dotcom-Welle wurde vom Glauben getrieben, daß Technologie neue  Märkte schaffen, selbst aber die Gesetze der Ökonomie hinter sich lassen  könne. Die Zeit der Anschuldigungen war gekommen. Daß der Wind sich gedreht  hatte, zeigte sich etwa, als David Murray von der Australian  Commonwealth Bank auf dem World Congress on IT 2002 vor  der Versuchung warnte, „Informationstechnologie als Strategie an  sich zu verstehen". Mit dem Stolz desjenigen, der das Dotcom-Modell  nicht übernommen hat, signalisierte Murray, daß der Einsatz von  Technologien für seine Bank keine weiteren Produktivitätsgewinne  brächte. „Wenn jeder PC im Büro permanent Lizenzgebühren kostet, wenn  dieser PC dazu benutzt wird, um private E-mails zu schreiben oder  pornographisches Material herunterzuladen, und damit juristische Risiken  produziert …, wenn Technologie nicht die Anforderungen erfüllt, dann  sollte man ihren Wert hinterfragen." Schließlich behauptete Murray  sogar, Informationstechnologien würden die Weltwirtschaft ruinieren.  „Microsoft behauptet, Informationstechnologien werden das Wachstum  der Weltwirtschaft vorantreiben. Lassen sie mich dazu sagen: Die  IT-Industrie der USA hat es ganz allein geschafft, die Weltwirtschaft zu  ruinieren, weil die Versprechen der Branche zu groß waren. Als diese  sich in den Casino-Zonen der Aktienmärkte in Gewinnversprechen  verwandelt hatten, hatte dies völlig unrealistische Investitionen zur  Folge." So beschuldigen sich Technologie-Unternehmen und das  Kapital gegenseitig, für den Dotcom-Crash und die folgende Rezession  verantwortlich zu sein. Unter der Hingabe und der Aufregung der späten Neunziger lauerte ein  Gefühl von Unvermeidlichkeit, um nicht zu sagen der Schicksalhaftigkeit.  Unglücklicherweise fehlte es den Dotcoms an Spannung. Wie viele andere  Aspekte der „transparenten Gesellschaft" wurden sie von einer  essenziellen menschlichen Fadheit angetrieben. Die Protagonisten der  Generation @ waren ganz normale Leute, und möglicherweise gibt es gar  kein Geheimnis, das aufgeklärt werden müßte. Es gibt weder Anzeichen der  Verzweiflung noch solche der Hoffnung. Bestenfalls haben wir es mit  Wirtschaftskriminalität zu tun. Denn eigentlich fehlte den Dotcoms, die  durch das Versprechen auf völlig neue Möglichkeiten charakterisiert  waren, die nötige verschwörerische Energie. Es bleibt also fraglich, ob hinter ihren Geschäftsmodellen  tatsächlich eine planmäßig durchgeführte Wirtschaftskriminalität  steckte. Sicher aber läßt sich Zynismus konstatieren, weil man sich  verspekuliert hat. Es wurden aber offenbar keine Fehler gemacht. „Regeln  waren für Warmduscher. Hier waren unbesiegbare Innovatoren am Werk, die  über Regeln nur lachten", so Keller über Enron. Der  Management-Guru Tom Peters hatte dazu aufgerufen, Revolutionen  anzuzetteln, die Regeln zu brechen und alle bekannten Systeme zu  zerschlagen – und die Enronisten folgten, vermutlich ohne sich darüber  klar zu sein, daß Anklagen wegen Behinderung der Justiz folgen würden. „Die Beeinflussung von Regierungsbeamten war der modus  operandi," erklärt Karel Williams, ein Professor für Buchhaltungswesen  aus Manchester. Die Enron-Elite schuf eine Organisation, die  durch eine Kultur der Rücksichtslosigkeit charakterisiert war.  Individuelles Fehlverhalten wurde durch das allgemeine Geschäftsgebaren  unterstützt. „Der Aktienmarkt war insofern am Betrug beteiligt, als  an jedem erfolgreichen Schwindel außer dem cleveren Betrüger, der den  Gewinn einsteckt, auch ein gieriges Gegenüber beteiligt ist, das jeden  Zweifel mit Absicht ignoriert", glaubt Williams. Der Schlüssel liegt wohl darin, daß alles so schnell ging. Es war  schon vorbei, bevor die Protagonisten auch nur eine Ahnung davon haben  konnten, was sie eigentlich taten. Man hatte junge, aggressive  Betriebswirtschaftler, die sogenannten Baby Suits, angeheuert,  von denen erwartet wurde , sich ruhig und unauffällig zu verhalten und  keine Probleme zu machen. Sie beschleunigten die geschäftlichen  Transaktionen weiter. Als man sich so dem magischen Jahr 2000 näherte,  sah alles bestens aus. Die Folgen extrem schnellen Handelns sind Teil der „organisierten  Unschuld", die sich hier zeigt. Der Geschwindigkeitskult der „Fast  Companies" machte es unmöglich, überhaupt Fragen zu stellen. Im Zuge  einer bewußt herbeigeführten kollektiven Halluzination erschien es  unangebracht, auch nur darüber nachzudenken, daß auch dieses Geschäft  wie alle anderen einem Auf und Ab unterliegen würde. Ehemalige Dotcommer sind immer noch verblüfft. Obwohl sie selbst  behauptet hatten, ihre Revolution würde alles verändern, war ihnen die  historische Weisheit völlig unbekannt, daß jede Revolution ihre Kinder  frißt. Die als ungerecht empfundene Krise, die scheinbar ohne  ersichtlichen Grund gekommen war, überwältigte die Propagandisten  virtueller Unternehmen, die sich darauf einigten, daß eigentlich niemand  für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden könne. Es ist gut  möglich, daß ihre Anwälte den Dotcom-Chronisten geraten haben, nicht zu  tief in der eigenen Geschichte zu stochern. Gemeinsame Klagen von  Geschädigten könnten drohen. Dies würde den erstaunlichen Mangel an Selbstkritik unter den Autoren  erklären. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Autoren immer noch von  ihrer oberflächlichen Selbstwahrnehmung eingenommen sind und immer noch  an das Bild einer einzigartigen Erfahrung glauben, durch welche die  Dotcom-Generation weltweit gemeinsam gegangen ist. Die Protagonisten der  Dotcom-Welle hatten die Geschichte auf ihrer Seite, die Möglichkeiten  konnten sich eigentlich nur vervielfältigen. Was also war  schiefgelaufen? (...)
 
   
   
   
  