LI 92, Frühjahr 2011
Generation Tahrir
Bei den Kämpfern des Wandels – Nachrichten vom Mittelpunkt der WeltElementardaten
Genre: Bericht / Report
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel und Karin von Schweder-Schreiner
Textauszug
(...)
Montag, 7. Februar
Rings um den Platz werden Fahnen verkauft, Stirnbänder, Clownshüte,  Perücken. Alles dreifarbig, wie die ägyptische Fahne: Rot, Weiß,  Schwarz, mit einem gelben Adler in der Mitte.
Ich passiere die Checkpoints. Auf dem ersten Schild dieses Morgens steht: „Game over“.
Ahmad, 25, mit einer ägyptischen Fahne um den Kopf: „Ich möchte  sagen, daß ich seit dem ersten Tag hier bin, und ich schwöre, ich gehe  erst weg, wenn Mubarak gestürzt ist. Ich möchte, daß meine Kinder frei  aufwachsen, ich bin Ingenieur, ich möchte arbeiten. Ich bin Muslim, und  die da sind Christen. (Er deutet zur Seite.) Wir alle hier schreiben  Geschichte. Wir werden die Welt verändern, aber zum Besseren. Sehen Sie  den Mann da? Ein berühmter Schauspieler. Sehen Sie diese Männer da?  Fußballspieler. Alle Ägypter sind hier.“
Ein Ismail kommt dazu, mit einem dicken Verband um den Kopf. Ein weiteres nicht kollaterales Opfer.
Ahmad fährt fort, zeigt mit dem Finger auf mich: „Die hat Glück, daß  sie hier ist. Sie wird es ihren Enkeln erzählen und ich den meinen: ‘Ich  war auf dem Tahrirplatz.’“
Ismail macht eine Handbewegung: „Sehen Sie, wie schmutzig ich bin?  Aber ich bleibe hier, bis er in der Hölle ist.“ Er, dessen Name man  nicht einmal auszusprechen braucht.
Ein Schild am Boden: „Ich bin das Volk. Und wer bist du?“
Fadi,  ein Kopte, einer dieser Afromänner aus den Siebzigern: „Ich möchte hier  leben, ich liebe mein Land. Diese Revolution eint Christen und Muslime.  Gestern haben sie hier auf dem Platz eine Messe abgehalten.“
Irgendwo inmitten einer halben Million Menschen. Und eine Trauung  wird stattfinden. Und gleich eine Scheinbeerdigung. Ein kleiner Sarg,  darüber die Nationalfahne, auf den Schultern getragen, von der Menge  begleitet, mit Schreien. Zu Ehren des ägyptischen Journalisten Ahmed  Mahmoud, der während der Unruhen umkam.
Ein junger Mann hält ein großes rotes Papierherz in der Hand. Seine Botschaft an Mubarak: „Hau ab, ich will heiraten!“
Bei den Künstlern, wo ich die Bekanntschaft der strahlenden Mona mit  den smaragdgrünen Augen gemacht habe, stellt sich mir der strahlende  Mohammed Abdel Kader mit den mandelfarbenen Augen vor. „Alle nennen mich  Medo“, sagt er. Er ist 25 Jahre alt und Schauspieler. Offenbar  beteiligen sich die ägyptischen Schauspieler geschlossen an der  Revolution, allein in direkter Nähe Dutzende.
„Wir haben uns erst hier kennengelernt“, sagt Medo, „wir kannten uns  vorher nicht. Wir haben uns über Facebook organisiert und beschlossen,  unsere Zukunft auf der Straße zu verändern. Das ist die Revolution der  Jugend vom 25. Januar.“ Er hält ein Blatt Papier in der Hand, auf das er  schrieb, ehe wir unser Gespräch begannen. „Wir versuchen, alles in  Ordnung zu halten, damit die Ausländer einen guten Eindruck haben … Das,  was ich hier schreibe, ist für unsere Künstlergewerkschaft bestimmt,  sie ist gegen uns, gegen die Revolution, sie wollen uns ausschließen.  Ich schreibe ihnen, daß wir nicht auf ihrer Seite sind, wir sind für die  Revolution.“
Kamiz Ez el-Arab kommt, Dramaturg und Liederschreiber, Blazer und  blaues Hemd, Kippe im Mund. Mit seinen 47 Jahren könnte er Medos Vater  sein. „Ich habe von Anfang mitgemacht bei dieser Revolution und fühle  mich daher nicht alt“, sagt er gutgelaunt. „Sie wissen doch, der Elefant  ist alt und langsam. Und wenn er auf etwas tritt, bleibt er darauf  stehen. Ägypten ist genauso, langsam, aber sicher.“
Noch vor zwei Tagen hat der Platz gegen die Mubarak-Anhänger  gekämpft. Mubarak macht weiter, tritt nicht zurück. Und wenn sich die  Sache bis September hinzieht, bis zum Ende seiner Amtszeit? „Nein. Ich  glaube, der Wandel hat schon begonnen. Der geistige Wandel: Wir haben  keine Angst. Das ist neu. Vor einem Monat hätten die Leute nicht gewagt,  den Namen Mubarak auszusprechen. Im Augenblick herrscht Kampfstimmung.  Wir haben Leute hier verloren. Es gibt menschliche Barrikaden, Leute,  die sich vor die Panzer legen, um sie am Weiterfahren zu hindern.“
Kamiz ist ein Mann des laizistischen Ägypten. Was meint er zur  westlichen Angst vor der Muslimbruderschaft? „Die islamische Bewegung  ist Teil der ägyptischen Gesellschaft. Ein Argument, das Mubarak  anführt, um die westliche Welt zu erschrecken.“
Als größte Oppositionsbewegung wurde die Muslimbruderschaft für  illegal erklärt und brutal verfolgt. Sie wurde von der Revolution ebenso  überrascht wie das Regime. Hat aber reagiert und sich der Jugend  angeschlossen, ohne jeden Führungsanspruch.
In den letzten Jahren hatten sich in Ägypten Protestbewegungen formiert wie die 2004 von Intellektuellen gegründete Kifaya („Es reicht!“) oder die Facebook-Gruppe Bewegung Sechster April, 2008 zur Unterstützung des Arbeiterkampfes ins Leben gerufen.
Doch keine Bewegung löste einen solchen Dominoeffekt aus wie die Gruppe We Are All Khaled Said, benannt  nach dem im Juni 2010 von der Polizei zu Tode geprügelten jungen  Blogger. Sie scharte Zehntausende um sich und rief dazu auf, am  25. Januar, einem Feiertag, auf die Straße zu gehen.
Wegen der Drohungen des Regimes gab sich der Verwalter der Website nicht zu erkennen. Bis heute.
Wael Ghonim, ein dreißigjähriger Google-Manager, hat gerade in einem dramatischen Interview mit dem ägyptischen Privatsender Dream TV bestätigt,  daß er die Seite verwaltet hat. Es sind 17 emotionale Minuten, an deren  Ende Ghonim weinend das Studio verläßt, nachdem er Photos junger Männer  gesehen hat, die auf dem Tahrirplatz getötet wurden. Als sie starben,  saß er in Haft. Heute, nach zwölf Tagen, erlebt er den ersten Tag in  Freiheit.
Im Interview sagt er, daß er in den Vereinigten Arabischen Emiraten  ein bequemes Leben hat, und dann bemerkt er zwei Dinge: daß für ihn  zuerst die Liebe zu Ägypten kommt, wo er geboren und aufgewachsen ist;  und daß es Verrat gewesen wäre, in den Emiraten zu bleiben und am Pool  zu sitzen. Statt dessen teilte er am Vorabend des 25. Januar Google mit,  er habe eine persönliche Angelegenheit in Ägypten zu erledigen, und  begab sich zum Tahrirplatz, um an der Revolution teilzunehmen. Drei Tage  später griffen Mubaraks Sicherheitskräfte zu. Sie verbanden ihm die  Augen, verhörten ihn pausenlos, er wußte nicht, was draußen geschah, und  draußen wußte niemand, wo er sich befand.
Als er nach seiner Freilassung erfuhr, daß Menschen ihr Leben  verloren hatten, war es ihm ein Bedürfnis, sie zu ehren. „Ich bin kein  Held, ich habe nur die Tastatur benutzt, ich habe nie mein Leben  riskiert; die wahren Helden sind die da draußen auf dem Platz“, sagte er  mit zitternder Stimme, bevor er die Fassung verlor und das Studio  verließ.
Mit seinen patriotischen, leidenschaftlichen Worten und seiner  Verletzlichkeit wirkte er auf viele, die ihn heute gesehen haben, so  bewegend, daß sie zum ersten Mal auf den Platz gegangen sind.
Im Westen verstecken die Menschen sich immer mehr, wenn sie weinen, doch Araber weinen viel, vor allem um ihre Toten.
Es ist stockdunkel. Offiziell herrscht seit elf Minuten  Ausgangssperre. Aber welche Ausgangssperre? Noch immer befinden sich  Zehntausende auf dem Platz. Kamiz verabschiedet sich nur, weil er an der  Reihe ist, in seinem Haus Wache zu schieben. „Nachdem die Polizei aus  den Straßen verschwunden ist, haben sich alle organisiert, um ihre  Häuser zu schützen.“ Als ich den Platz um diese Zeit verlasse, ist es,  als kehrte ich dem Leben den Rücken und beträte den Weg ins Reich der  Schatten. In Nord-afrika, mitten in der größten arabischen Stadt,  leuchtet ein heller Fleck in der Nacht, wie in der Antike, wenn die  Menschen in der Wildnis ein Feuer entzündeten.
Der Tahrirplatz gehört den Menschen.
(…)
 
   
   
   
  