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Cover Lettre International 90, Luc Tuymans
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LI 90, Herbst 2010

Krieg im Herzen Indiens

Bei der maoistischen Aufstandsbewegung in den Wäldern Dandakaranyas

(Auszug/LI 90)

 

Die knappe, maschinengeschriebene Notiz wurde in einem versiegelten Umschlag unter meiner Tür hindurchgeschoben und enthielt die Bestätigung meines Treffens mit Indiens größtem internen Sicherheitsrisiko. Seit Monaten hatte ich darauf gewartet, von ihnen zu hören. Ich sollte mich im Ma Danteshwari mandir [„Tempel“] in Dantewada, Chhattisgarh, zu vier genannten Zeiten an zwei bestimmten Tagen einfinden. Diese Maßnahme sollte schlechtem Wetter, Reifenschäden, Verkehrsblockaden oder -streiks und schierem Pech Rechnung tragen. Auf dem Zettel stand: „Autor sollte tika tragen, Photoapparat und Kokosnuß dabei haben. Abholer wird Kappe tragen, Hindi-Ausgabe von Outlook und Bananen dabeihaben. Paßwort: Namashkar Gu-ruji.“

 

Namashkar Guruji. Ich fragte mich, ob der Abholer einen Mann erwartete. Und ob ich mir einen Schnurrbart ankleben sollte.

 

Dantewada ist auf viele Art zu beschreiben. Es ist ein Oxymoron. Es ist eine Grenzstadt mitten im Herzen Indiens. Es ist das Epizentrum eines Krieges. Es ist eine kopfstehende Stadt im Ausnahmezustand.

 

In Dantewada tragen die Polizisten Zivil und die Rebellen Uniform. Der Gefängnisdirektor sitzt im Gefängnis. Die Häftlinge sind frei. (Vor zwei Jahren flüchteten 300 Häftlinge aus dem Gefängnis in der Altstadt.) Vergewaltigte Frauen befinden sich in Polizeigewahrsam. Die Vergewaltiger halten Reden im Basar.

 

Jenseits des Flusses Indravati befindet sich das Gebiet, das die Maoisten kontrollieren und die Polizei „Pakistan“ nennt. Die Dörfer dort stehen leer, doch der Wald wimmelt von Menschen. Kinder, die in die Schule gehen sollten, laufen frei herum. Die Schulgebäude in den hübschen Urwalddörfern wurden entweder gesprengt und sind nur noch Ruinen, oder die Polizei hat sie besetzt. Der tödliche Krieg, der im Dschungel ausgetragen wird, ist ein Krieg, auf den die indische Regierung einerseits stolz, der ihr andererseits peinlich ist. Operation Green Hunt wird verkündet wie auch geleugnet. P. Chidambaram, Indiens Innenminister (und Hauptgeschäftsführer des Krieges), behauptet, daß sie nicht existiert, daß die Medien sie erfunden haben. Dennoch werden beträchtliche Geldbeträge dafür zur Verfügung gestellt und Zehntausende Soldaten dafür mobilisiert. Obwohl der Krieg im Urwald Zentralindiens stattfindet, wird er ernste Konsequenzen für uns alle haben.

 

Wenn Geister auf jemanden oder etwas verweisen, was nicht mehr existiert, dann ist vielleicht die neue vierspurige Autobahn, die durch den Urwald bricht, das Gegenteil eines Geistes. Vielleicht ist sie ein Vorbote dessen, was noch kommen wird.

 

Die Gegner, die sich im Wald gegenüberstehen, könnten ungleicher nicht sein. Auf der einen Seite eine massive paramilitärische Armee, ausgerüstet mit dem Geld, den Waffen, den Medien und der Hybris einer jungen Supermacht. Auf der anderen Seite gewöhnliche Dorfbewohner, bewaffnet mit traditionellen Waffen und unterstützt von einer hervorragend organisierten, hochmotivierten Guerillakampftruppe, die auf eine ungewöhnliche und gewaltreiche Geschichte bewaffneter Aufstände zurückblickt. Die Maoisten und das Paramilitär sind alte Widersacher und haben sich in früheren Avataren bereits mehrmals bekämpft: in den fünfziger Jahren in Telangana, in den späten sechziger und in den siebziger Jahren in Westbengalen, Bihar, Srikakulam in Andhra Pradesh und seit den achtziger Jahren bis heute erneut in Andhra Pradesh, Bihar und Maharashtra. Sie kennen die Taktik ihres Gegners und haben seine Kampfhandbücher genau studiert. Jedesmal schien es, als wären die Maoisten (oder ihre früheren Avatare) nicht nur besiegt, sondern auch buchstäblich bis auf den letzten Mann ausge-merzt worden. Jedesmal sind sie wiederauferstanden – besser organisiert, entschlossener und einflußreicher als je zuvor. Heute hat sich der Aufstand in den an Bodenschätzen reichen Wäl-dern von Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen ausgebreitet – der Heimat von Millionen Menschen der indigenen Stämme Indiens, dem Traumland der indischen Industrie.

 

Das liberale Gewissen glaubt gern, daß der Krieg in den Wäldern ein Krieg der Regierung Indiens gegen die Maoisten sei, welche Wahlen eine Augenwischerei und das Parlament einen Saustall nennen und öffentlich die Absicht erklärt haben, den indischen Staat zu Fall zu bringen. Da kommt es gelegen, zu vergessen, daß die Stämme in Zentralindien auf eine Geschichte des Widerstands zurückblicken, die um Jahrhunderte älter ist als Mao. (Das ist eine Binsenweisheit. Wenn es nicht so wäre, würden sie nicht mehr existieren.) Die Ho, die Oraon, die Kol, die Santal, die Munda und die Gond haben mehrmals gegen die Briten, gegen Großgrundbesitzer und Geldverleiher gekämpft. Die Rebellionen wurden grausam niedergeschlagen, viele Tausende verloren ihr Leben, und doch wurden die Stämme nie besiegt. Und nach der Unabhängigkeit bildeten Stammesmitglieder den Kern des ersten Aufstandes, den man maoistisch nennen könnte und der in dem Dorf Naxalbari in Westbengalen stattfand (wo das Wort „Naxaliten“, das heute austauschbar mit „Maoisten“ gebraucht wird, seinen Ursprung hat). Seit damals ist die Politik der Naxaliten unentwirrbar mit Stammesaufständen verwoben, was ebensoviel über die Stämme wie über die Naxaliten sagt.

 

Das Vermächtnis der Rebellion hat ein erzürntes Volk zurückgelassen, das von der indischen Regierung vorsätzlich isoliert und marginalisiert wird. Die indische Verfassung, die moralische Grundlage der indischen Demokratie, wurde 1950 vom Parlament verabschiedet. Es war ein tragischer Tag für die Stämme. Die Verfassung bestätigte die koloniale Politik und setzte den Staat als Verwalter der Stammesgebiete ein. Über Nacht wurden alle Stämme zu Besetzern ihres eigenen Landes. Die Verfassung verweigerte ihnen das traditionelle Recht auf die Produkte des Waldes, sie kriminalisierte ihre Lebensweise. Sie gab ihnen das Wahlrecht, nahm ihnen dafür aber das Recht auf einen Lebensunterhalt und Würde.

 

Nachdem die Regierung sie enteignet und in eine Abwärtsspirale der Armut gestoßen hatte, begann sie mit einem grausamen Handstreich, die Armut der Stämme gegen diese einzusetzen. Jedesmal, wenn sie große Bevölkerungsteile umsiedeln mußte – wegen eines Staudamms, eines Bewässerungsprojekts, der Ausbeutung von Bodenschätzen –, sprach sie davon, die „Stämme in die Gesellschaft einzugliedern“ und ihnen „die Früchte moderner Entwicklung“ zukommen zu lassen. Die überwiegende Mehrheit der zig Millionen Vertriebenen (über 30 Millionen allein für den Bau von Staudämmen), den Flüchtlingen vor Indiens „Fortschritt“, waren Mitglieder von Stämmen. Sobald die Regierung vom Wohlergehen der Stämme spricht, ist es Zeit, sich Sorgen zu machen.

 

Die jüngste Äußerung der Besorgnis stammt von Innenminister P. Chidambaram, der nicht will, daß die indigene Bevölkerung in „musealen Kulturen“ lebt. Ihr Wohlergehen schien ihm während seiner Laufbahn als Firmenanwalt, der die Interessen mehrerer großer Bergbauunternehmen vertrat, nicht sonderlich am Herzen zu liegen. Es ist also keine schlechte Idee, sich die Grundlage dieser neuen Besorgnis näher anzusehen.

 

Während der letzten fünf Jahren haben die Regierungen von Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen insgeheim Hunderte von Absichtserklärungen im Wert von mehreren Milliarden Dollar mit Firmen unterzeichnet – zum Bau von Stahlwerken, Eisenschwammfabriken, Kraftwerken, Aluminiumraffinerien, Staudämmen und Bergwerken. Um die Absichtserklärungen zu hartem Geld zu machen, müssen die Stämme umgesiedelt werden. Das ist der Grund für diesen Krieg.

 

Wenn ein Land, das sich demokratisch nennt, innerhalb seiner Grenzen offen einen Krieg erklärt, wie sieht dieser Krieg dann aus? Hat der Widerstand eine Chance? Sollte er eine Chance haben? Wer sind die Maoisten? Sind sie gewalttätige Nihilisten, die den Ureinwohnern eine überholte Ideologie aufzwingen und sie zu einem aussichtslosen Aufstand anstacheln? Was für Lektionen haben sie aus früheren Erfahrungen gelernt? Ist grundsätzlich jeder bewaffnete Kampf undemokratisch? Ist die Sandwichtheorie – „gewöhnliche“ Stammesmitglieder gefangen im Kreuzfeuer zwischen Staat und Maoisten – zutreffend? Sind die „Maoisten“ und die „Stämme“ wie verlautbart zwei vollkommen voneinander unabhängige Kategorien? Haben sie gemeinsame Interessen? Haben sie voneinander gelernt? Haben sie sich gegenseitig verändert?

 

Am Tag vor meiner Abreise rief meine Mutter an. Sie klang ein bißchen verschlafen. „Ich habe mir gedacht“, sagte sie mit dem unheimlichen Instinkt einer Mutter, „daß dieses Land eine Revolution braucht.“

 

In einem Artikel im Internet wird behauptet, daß der israelische Mossad dreißig hochrangige indische Polizeioffiziere in den Techniken gezielten Mordens ausbildet, um die Maoisten „führungslos“ zu machen. In der Presse wird über die neue Hardware geschrieben, die von Israel gekauft wurde: Laserentfernungsmesser, Infrarotkameras und unbemannte Drohnen, die sich in der US-Armee so großer Beliebtheit erfreuen. Die perfekte Ausrüstung, um gegen die Armen vorzugehen.

 

Die Fahrt von Raipur nach Dantewada dauert zehn Stunden und führt durch Gegenden, die von Maoisten „infiziert“ sind. Das ist kein unbedacht gewähltes Wort. „Infiziert/Infizierung“ schließt ein: „Krankheit/Plage“. Krankheiten müssen geheilt werden. Plagen müssen ausgerottet werden. Die Maoisten müssen eliminiert werden. Auf diese schleichende, unauffällige Weise nimmt das Vokabular des Genozids unsere Sprache als Geisel.

 

Um die Autobahn zu schützen, „sichern“ Sicherheitskräfte ein schmales Stück Dschungel zu beiden Seiten der Trasse. Jenseits davon befindet sich das raj des dada log. Das Reich der Brüder. Der Genossen.

 

Am Stadtrand von Raipur wirbt eine riesengroße Tafel für das Vedanta- (die Firma, die unser Innenminister einst vertreten hat) Krebskrankenhaus. In Orissa, wo es um den Abbau von Bauxit geht, finanziert Vedanta eine Universität. Auf diese schleichende, unauffällige Weise dringt die Bergbauindustrie in unsere Phantasie vor: die sanften Riesen, denen wir wirklich am Herzen liegen. Man nennt es die „soziale Verantwortung der Firmen“ (CSR, Corporate Social Responsibility). Es erlaubt den Bergbaukonzernen, so zu sein, wie es der legendäre Schauspieler und frühere Chefminister von Andhra Pradesh N. T. Rama Rao war, der in mythologischen Telugu-Filmen gern sowohl die Rolle des Guten als auch die des Bösen spielte. Die soziale Verantwortung maskiert jene unerhörte Wirtschaftspolitik, die die Grundlage der Bergbauindustrie in Indien bildet. So erhält zum Beispiel die Regierung laut dem jüngsten Lokayukta-Bericht über Karnataka für jede Tonne von einer privaten Firma abgebauten Eisenerzes 27 Rupien, die Firma erhält 5 000 Rupien. Für Bauxit und Aluminium sind die Zahlen noch unglaublicher. Wir sprechen hier von Milliarden-Dollar-Diebstählen bei hellichtem Tag. Von genug Geld, um Wahlen, Regierungen, Richter, Zeitungen, TV-Sender, NGOs und andere Hilfsorganisationen zu kaufen. Was bedeutet da schon das gelegentliche Krebskrankenhaus?

 

Ich erinnere mich nicht, den Namen Vedanta auf der langen Liste der Absichtserklärungen gelesen zu haben, die die Regierung von Chhattisgarh unterschrieben hat. Doch ich vermute, daß es irgendwo einen Berg voller Bauxit gibt, wenn ein Krebskrankenhaus gebaut wurde.

 

Wir kommen durch Kanker, berühmt für sein College, in dem Terrorismusbekämpfung und Dschungelkriegsführung gelehrt wird. Geleitet wird es von Brigadegeneral B. K. Ponwar, dem Rumpelstilzchen dieses Krieges, dem die Aufgabe anvertraut wurde, aus bestechlichen, nachlässigen Polizisten (Stroh) Dschungelkommandos (Gold) zu machen. Das Motto der Kriegsschule „Kämpfe wie ein Guerilla gegen die Guerillas“ ist auf einen Felsen gemalt. Den Männern wird beigebracht, zu laufen, über den Boden zu robben, aus fliegenden Hubschraubern abzuspringen und sich von ihnen wieder aufnehmen zu lassen, (aus unerfindlichem Grund) zu reiten, Schlangen zu essen und sich vom Dschungel zu ernähren. Der Brigadegeneral ist sehr stolz darauf, Straßenköter zum Kampf gegen „Terroristen“ auszubilden. Alle sechs Wochen schließen 800 Polizisten die Ausbildung ab. Zwanzig weitere Schulen dieser Art sind in ganz Indien geplant. Die Polizei wird schrittweise zu einer Armee. (In Kaschmir ist es umgekehrt. Die Armee wird in eine aufgeblähte, administrative Polizei umgewandelt.) Auf den Kopf gestellt. Umgekrempelt. Nur eins bleibt gleich: Der Feind ist immer das Volk.

 

Es ist spät. Jagdalpur schläft. Auf zahllosen Plakaten bittet Rahul Gandhi die Leute, seinem Youth Congress, der Nachwuchsorganisation der Kongreßpartei, beizutreten. In den letzten Monaten war er zweimal im Distrikt Bastar, zum Krieg hat er jedoch nicht viel gesagt. Wahrscheinlich ist es derzeit zu riskant für den Kronprinzen, sich einzumischen. Seine Medienmanager müssen ein Machtwort gesprochen haben. Die Tatsache, daß die Salwa Judum – eine gefürchtete, von der Regierung finanzierte Miliz, die die Verantwortung trägt für Vergewaltigungen, Morde, das Niederbrennen von Dörfern und die Vertreibung von Hunderttausenden von Menschen aus ihren Dörfern – von Mahendra Karma geführt wird, einem Kongreßabgeordneten im Parlament von Chhattisgarh, wird kaum erwähnt von der sorgfältig orchestrierten Publicity um Rahul Gandhi.

 

Ich traf rechtzeitig zur verabredeten Zeit vor dem Ma Danteshwari mandir ein (erster Tag, erster Termin). Ich hatte meinen Photoapparat und eine kleine Kokosnuß dabei und trug ein pudriges tika auf der Stirn. Ich fragte mich, ob mich jemand beobachtete und sich kaputtlachte. Nach ein paar Minuten näherte sich mir ein kleiner Junge. Er trug eine Kappe und einen Rucksack als Schulranzen. Auf den Fingernägeln Reste von rotem Nagellack. Keine Hindi-Ausgabe von Outlook, keine Bananen. „Bist du die, die reingehen will?“ fragte er mich. Kein Namashkar Guruji. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Er nahm einen schmutzigen Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir. Darauf stand: „Outlook nahin mila. (Outlook nicht gefunden.)“

 

„Und die Bananen?“

 

„Die habe ich gegessen“, sagte er. „Ich hatte Hunger.“

 

Er war wirklich ein Sicherheitsrisiko.

 

(...)

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