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Cover Lettre International 53, Rebecca Horn
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Inhaltsverzeichnis

LI 53, Sommer 2001

Die Akte Henry Kissinger

I. Kriegsverbrechen: Präsidentschaftswahlen 1968/Pariser Friedensverhandlungen/Krieg in Indochina/Subversion in Chile

Wie sicher bald deutlich werden wird, und um es gleich vorwegzunehmen: Der folgende Text ist von einem politischen Gegner Henry Kissingers verfaßt worden. Dennoch war ich immer wieder erstaunt darüber, wieviel feindseliges und diskreditierendes Material ich mich bemüßigt fühlte wegzulassen. Ich möchte nur auf jene Vergehen Kissingers eingehen, die als Grundlage für eine Strafverfolgung dienen könnten und sollten: wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen wider die Menschlichkeit und Vergehen gegen Gewohnheitsrecht oder internationales Recht, darunter Verschwörung zum Mord, Entführung und Folter.

Ich hätte erwähnen können, wie Kissinger die irakischen Kurden rekrutierte und dann verriet, als er sie irreführenderweise ermutigte, 1972 bis 1975 die Waffen gegen Saddam Hussein zu erheben, wie sie dann absichtlich belogen und ihrem Schicksal überlassen wurden, um in ihren Bergen der Ausrottung entgegenzusehen, als Saddam Hussein einen diplomatischen Deal mit dem Schah von Persien einging. Die Schlußfolgerungen des Berichts des Kongreßabgeordneten Otis Pike sind immer noch schockierend und enthüllen Kissingers gefühllose Gleichgültigkeit, wenn es um Menschenleben und Menschenrechte geht. Doch dies fällt in die Kategorie einer verkommenen Realpolitik; irgendwelche Gesetze scheinen dabei nicht verletzt worden zu sein.

In gleicher Weise liefert uns Kissingers Orchestrierung des politischen, militärischen und diplomatischen Schutzes des Apartheidregimes in Südafrika einen Beleg für moralisch abstoßendes Verhalten; das schließt auch die erschrekkenden Konsequenzen der Destabilisierung in Angola mit ein. Doch auch in diesem Fall erhält man lediglich Einblick in eine schmutzige Phase des Kalten Krieges und der imperialen Geschichte und hat ein Beispiel für unverantwortliche Machtausübung vor Augen, keine Episode organisierten Verbrechens. Zudem muß man die institutionalisierte Natur dieser Politik berücksichtigen, die in ihrer Ausformung wohl von jeder Regierung, jedem nationalen Sicherheitsberater oder Außenminister vertreten worden wäre.

Ähnliche Zurückhaltung kann man gegenüber Kissingers Vorsitz in der Presidential Commission on Central America Anfang der achtziger Jahre üben, in der auch Oliver North saß, eine Kommission, die die Aktivitäten der Todesschwadronen rund um den Panamakanal beschönigte. Oder gegenüber dem politischen Schutz, den Kissinger in seiner Amtszeit der PahlewiDynastie im Iran mit ihrem Folter und Unterdrückungsapparat gewährte. Es ist ernüchternd zu sehen, um wieviel länger diese Liste noch ausfallen könnte. Aber es genügt nicht, all die ungeheuren Grausamkeiten und den Zynismus von Jahrzehnten einem einzelnen Mann allein anzulasten (auch wenn man ab und zu einen faszinierenden Blick auf diesen Zynismus erhascht, wenn zum Beispiel Kissinger Präsident Ford dazu drängt, den unbequemen Alexander Solschenizyn nicht zu empfangen, während Kissinger sich die ganze Zeit über als der größte und entschlossenste Gegner des Kommunismus ausgibt).

Nein, ich habe mich auf die erkennbaren Verbrechen beschränkt, die sich in einer ordentlich verfaßten Anklageschrift finden könnten und sollten, unabhängig davon, ob diese Handlungen nun im Einklang mit der herrschenden "Politik" waren oder nicht. Dazu gehören im ersten Teil dieses Aufsatzes die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen in Indochina und die persönliche Anstiftung und Planung der Ermordung eines hohen Staatsbeamten in einem demokratischen Land Chile , mit dem die Vereinigten Staaten sich nicht im Kriegszustand befanden. Im zweiten Teil werden wir sehen, daß diese kriminelle Geisteshaltung auch auf Bangladesch, Zypern, Osttimor und sogar auf Washington, D.C. Anwendung fand.

Einige dieser Vorwürfe können nur prima facie, nach Augenschein, konstruiert werden, da Mr. Kissinger dafür gesorgt hat, daß große Anteile an Unterlagen zurückgehalten werden oder möglicherweise gar vernichtet wurden eine Tatsache, die möglicherweise als vorsätzliche Behinderung der Justiz gedeutet werden könnte. Allerdings befinden wir uns allmählich in einer Zeit, in der die Aufrechterhaltung "souveräner Immunität" bei Staatsverbrechen für nichtig erachtet wird. Wie ich darlegen werde, hat Kissinger im Gegensatz zu vielen seiner Kritiker diesen entscheidenden Unterschied begriffen. Das Votum des Oberhauses in London, als es um die internationale Bedeutung der Verbrechen von General Augusto Pinochet ging, dazu der großartige Einsatz der spanischen Richterschaft und die Urteile des Internationalen Tribunals in Den Haag haben den Schutzschild zerstört, der Verbrechen deckte, die im Namen der Staatsraison verübt wurden. Es gibt keinen Grund mehr, warum nicht in irgendeiner betroffenen Gerichtsbarkeit ein Haftbefehl in der Strafverfolgung gegen Kissinger ausgestellt werden könnte, keinen Grund, warum Kissinger nicht gezwungen werden könnte, diesem Haftbefehl Folge zu leisten. Tatsächlich gibt es zum Zeitpunkt dieser Niederschrift eine Reihe von Gerichtsbarkeiten, in denen die Justiz sich endlich bemüht, die Beweise zu sichten. Zu alledem haben wir noch den Präzedenzfall der Nürnberger Prozesse, an deren Grundsätze zu halten sich die Vereinigten Staaten feierlich verpflichtet haben.

Sollte es nicht zu einem Verfahren kommen, dann stellt dies eine doppelte, gar dreifache Mißachtung des Rechts dar. Erstens würde dies das grundsätzliche und kaum noch in Frage gestellte Prinzip verletzen, daß selbst die Mächtigsten nicht über dem Recht stehen. Zweitens würde dies bedeuten, daß Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen wider die Menschlichkeit nur Verlierern drohen oder kleineren Despoten in relativ unbedeutenden Ländern. Dies wiederum führt zur armseligen Politisierung dessen, was ein nobles Gerichtsverfahren hätte sein können, und weckt den berechtigten Verdacht, es könne zweierlei Maß geben.

Viele, wenn nicht gar die meisten von Kissingers politischen Partnern, ob in Griechenland oder Chile, Argentinien oder Indonesien, sitzen im Gefängnis oder warten auf ihre Prozesse. Daß er selbst straflos ausgehen soll, stinkt zum Himmel. Falls diese Straflosigkeit weiter Bestand haben sollte, dann sollten wir schamhafterweise den alten Philosophen Anacharsis in Schutz nehmen, der da behauptete, daß Gesetze wie Spinnweben seien - gerade stark genug, die Schwachen zu halten, und zu schwach, die Starken zu bändigen. Im Namen der unzähligen bekannten und unbekannten Opfer ist es nun an der Justiz, die Sache anzupacken.

(...)

Chile (I): Der Staatsmann als Killer

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Abschließend ist es unumgänglich, das "Memorandum der Unterhaltung" des Weißen Hauses vom 15. Oktober 1970 zu lesen, auf das sich obiges Telegramm direkt bezieht, und dessen ehrlichere Zusammenfassung es darstellt. Bei diesem Gespräch auf "hochrangiger USG-Ebene" waren, wie der Überschrift zu entnehmen ist, "Dr. Kissinger, Mr. Karamessines, Gen. Haig" anwesend. Der erste Abschnitt ihrer Auslassungen ist vollständig geschwärzt worden, ohne die kleinste Anmerkung des Redaktionsdienstes in den Marginalien (angesichts dessen, was bisher schon eingeräumt wurde, dürften diese sechzehn Zeilen eine sehr interessante Lektüre sein). Ab dem 2. Abschnitt finden wir Folgendes:

"2. Danach lieferte uns Mr. Karamessines einen kurzen Überblick über Viaux, das Treffen von Canales mit Tirado, die neue Position des letzteren (nachdem Porta "aus Gesundheitsgründen" seines Kommandos enthoben worden ist), und, in aller Ausführlichkeit, über die allgemeine Lage in Chile vom Standpunkt eines möglichen Putsches aus betrachtet.

3. Uns lagen gewisse Informationen vor, die Viaux’ angebliche Unterstützung im chilenischen Militär betrafen. Wir haben Viaux’ Behauptungen sorgfältig geprüft, dabei basierte unsere Analyse auf guten Geheiminformationen aus einer Reihe von Quellen. Wir kamen zu einem eindeutigen Schluß: Viaux hatte kaum mehr als eine Chance von eins zu zwanzig - vielleicht weniger- , um einen erfolgreichen Putsch zu starten.

4. Die verhängnisvollen Auswirkungen in Chile und im Ausland für den Fall eines Scheiterns des Putsches wurden diskutiert. Dr. Kissinger ging eine Liste dieser negativen Möglichkeiten durch. Seine Punkte deckten sich auffallend genau mit jenen, die Mr.Karamessines vorbereitet hatte.

5. Die Anwesenden beschlossen, daß die CIA eine Botschaft an Viaux übermitteln sollte, um ihn vor überstürzten Handlungen zu warnen. Im wesentlichen sollte diese Botschaft lauten: "Wir haben Ihre Pläne begutachtet, und basierend auf Ihren und unseren Informationen sind wir zu dem Schluß gekommen, daß Ihre Pläne für einen Putsch im Augenblick nicht zum Erfolg führen können. Im Falle eines Scheiterns würden sie Ihre Chancen in der Zukunft verringern. Sichern Sie Ihre Aktiva. Wir bleiben in Kontakt. Die Zeit wird kommen, da Sie zusammen mit all Ihren Freunden etwas unternehmen können. Sie werden weiterhin unsere Unterstützung erhalten."

6. Nach der Entscheidung, den ViauxPutsch, zumindest für den Augenblick, zu entschärfen, instruierte Dr. Kissinger Mr. Karamessines, die Aktiva in Chile zu sichern, und verdeckt und geschützt zu arbeiten, um die Möglichkeiten für zukünftige CIAAktivitäten gegen Allende zu erhalten. [Hervorhebung durch den Autor]

7. Dr. Kissinger sprach über seinen Wunsch, die Nachricht von unserer Ermutigung des chilenischen Militärs in den letzten Wochen so geheim wie möglich zu halten. Mr. Karamessines betonte ausdrücklich, daß wir alles nur erdenklich mögliche in dieser Richtung getan hätten, darunter auch der Einsatz falscher Flaggenoffiziere, konspirative Treffen in Autos und einer Reihe anderer Vorsichtsmaßnahmen. Allerdings hatten wir und andere eine Großzahl an Gesprächen mit einer Reihe von Personen geführt. Zum Beispiel Botschafter Korrys weitreichende Diskussionen mit zahlreichen Personen, in denen er besonders betonte, daß ein Putsch "nicht wieder in die Flasche gestopft werden kann". [Folgen drei geschwärzte Zeilen] (Dr. Kissinger bat darum, ihm am 16. Oktober eine Kopie der Botschaft zuzustellen.)

8. Das Meeting schloß mit Dr. Kissingers Bemerkung, daß die CIA weiter Druck auf jeden nur erkennbaren Schwachpunkt von Allende ausüben sollte - jetzt, nach dem 24. Oktober, nach dem 4. November und in der Zukunft, bis neuer Marschbefehl gegeben würde. Mr. Karamessines hielt fest, daß die CIA dem Folge leisten würde."

Gleis zwei bestand also aus zwei Schienensträngen. Gleis zwei/eins bestand aus einer Gruppe von Ultrarechten unter der Führung von General Roberto Viaux und seinem Nebenmann, Hauptmann Arturo Marshal. Diese Männer hatten 1969 versucht, einen Putsch gegen die Christdemokraten zu lancieren, und wurden selbst von den Konservativen im Offizierskorps verachtet. Gleis zwei/zwei bestand aus der scheinbar "respektablen" Gruppe um den General Camilo Valenzuela, Kommandant der Garnison in der Hauptstadt, dessen Name in den bereits erwähnten Telegrammen auftaucht und der sich hinter einigen der Schwärzungen verbirgt. Verschiedene CIA-Leute in Chile hatten den Eindruck, daß Viaux viel zu verrückt sei, als daß man ihm vertrauen könne. Auch die wiederholten Warnungen des Botschafters Korry zeigten Wirkung. Wie aus dem oben zitierten Memo vom 15. Oktober ersichtlich, hatten Kissinger und Karamessines in letzter Minute Bedenken wegen Viaux, der noch am 13. Oktober vom CIA-Posten 20.000 Dollar in bar erhalten und eine Lebensversicherungspolice über 250.000 Dollar in Aussicht gestellt bekommen hatte. Dieses Angebot war direkt vom Weißen Haus genehmigt worden. Da aber nur noch wenige Tage bis zur Amtseinführung Allendes blieben und Nixon wiederholt deutlich machte, daß es "absolut notwendig ist, die Wahl von Mr. Allende zum Präsidenten zu vereiteln", nahm der Druck auf die Gruppe Valenzuela immens zu. Die Konsequenz daraus war, daß der General Roberto Viaux, vor allem nach den herzlichen Worten der Ermutigung, die ihm übermittelt worden waren, sich verpflichtet fühlte, zur Tat zu schreiten und all jene eines Besseren zu belehren, die Zweifel an ihm hegten.

Am Abend des 19. Oktober 1970 versuchte die Gruppe Valenzuela, unterstützt durch einige von Viaux’ Bande und ausgestattet mit den Tränengasgranaten, die die CIA bereitgestellt hatte, General Schneider zu entführen, als er ein offizielles Diner verließ. Der Versuch scheiterte, weil Schneider in einem Privatwagen davonfuhr und nicht wie erwartet in einem Dienstfahrzeug. Dieses Scheitern sorgte für ein äußerst bedeutsames Telegramm vom CIA-Hauptquartier in Washington an die örtliche Dienststelle, in der um schnelles Eingreifen gebeten wurde, da "Hauptquartier am Vormittag 20. Oktober auf Anfragen von hoher Stelle reagieren muss". Daraufhin wurden Zahlungen über jeweils 50.000 Dollar an Valenzuela und seinen engsten Verbündeten genehmigt, unter der Bedingung, daß sie einen weiteren Versuch unternahmen. Dies taten sie am Abend des 20. Oktober. Auch diesmal konnte nur ein Fehlschlag gemeldet werden. Am 22. Oktober wurden die oben erwähnten "sauberen" Maschinenpistolen an die Gruppe Valenzuela übergeben, damit sie erneut einen Versuch unternahmen. Im Verlaufe desselben Tages ermordete General Roberto Viaux’ Bande schließlich General René Schneider.

Dem späteren Urteil der chilenischen Militärgerichtsbarkeit zufolge fanden sich in dieser Greueltat Elemente beider Stränge des "Gleises zwei" wieder. Anders gesagt, Valenzuela war zwar nicht persönlich anwesend, doch zu dem Mordkommando, das von Viaux angeführt wurde, gehörten auch Männer, die an den beiden vorangegangenen Versuchen beteiligt gewesen waren. Viaux wurde wegen Kidnappings und der Verschwörung zur Herbeiführung eines Putsches verurteilt. Valenzuela wurde wegen der Verschwörung zur Herbeiführung eines Putsches verurteilt. Jeder nachträgliche Versuch, die beiden Komplotte mit Ausnahme geringer Abweichungen voneinander zu trennen, stellt den Versuch dar, eine Unterscheidung zu konstruieren, wo es keine gibt.

Es macht tatsächlich keinen Unterschied aus, ob Schneider nun wegen einer fehlgeschlagenen Entführung ums Leben kam (seinen Attentätern zufolge soll er gar die Kühnheit besessen haben, sich zu wehren), oder ob seine Ermordung von vornherein eingeplant war. Die chilenische Militärpolizei jedenfalls vermeldete einen glatten Mord. Den Gesetzen eines jeden Rechtsstaates zufolge (auch der USA) kommt ein Verbrechen, das bei dem Versuch einer Entführung begangen wird, erschwerend, nicht mildernd hinzu. Man kann also nicht neben einer Leiche stehen und sagen: "Aber ich habe ihn nur entführen wollen", jedenfalls nicht, wenn man hofft, damit auf mildernde Umstände plädieren zu können.

Doch genau auf diese Form von "mildernden Umständen" läuft die papierdünne Verschleierung hinaus, mit der sich Kissinger seither vor der Anschuldigung geschützt hat, Komplize der Entführung und des Mordes zu sein, und zwar sowohl vor als auch nach der Tat. Diese jämmerlichen Beschönigungen haben sogar Eingang in schriftliche Unterlagen gefunden. Der Geheimdienstausschuß des Senats (Intelligence Committee) entschied bei seiner Untersuchung dieses Falles, daß es "keinen Beweis für einen Plan, Schneider zu ermorden, oder dafür, daß offizielle Stellen der Vereinigten Staaten ausdrücklich davon ausgingen, daß Schneider bei der Entführung erschossen werden würde" gab, da die Maschinenpistolen, die Valenzuela übergeben worden waren, bei dem Mord tatsächlich nicht verwendet worden wären und die CIA General Viaux wenige Tage vor dem Mord offiziell davon abgeraten hätte.

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