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Cover Lettre International 87, Ai Weiwei
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Inhaltsverzeichnis

LI 87, Winter 2009

Orient und Okzident

Politiken des Bildes, Bilder der Politik. Der Westen in den Augen des Islam

Wenig bekannt ist, daß es zum okzidentalen Orientalismus auch das Gegenstück eines orientalischen Okzidentalismus gibt.

Das Phänomen des Orientalismus hat im Okzident ein riesiges Korpus an Werken hervorgebracht. Manifestiert hat sich dieser Orientalismus im Wissen, das im akademischen Diskurs angehäuft wurde, wie in der schriftstellerischen oder künstlerischen Praxis, wo er insbesondere in der Form der „Orientreise“ hervortrat.

In der radikalen Kritik am Orientialismus springen zwei Punkte ins Auge: Erstens ist der Orient des Orientalisten gleichermaßen real wie imaginär, oft schafft er eine phantasierte Szenerie, die die Wünsche und Ängste dessen offenbaren, der diesen Orient sucht oder untersucht. Zweitens besteht eine Verbindung zwischen dem gewonnenen Wissen vom Orient und dessen politischem Gebrauch zur Errichtung oder Verstärkung einer Hegemonie, einer Beherrschung zum Zwecke der Ausbeutung und der Ausweitung des eigenen materiellen Reichtums. Es scheint normal zu sein, daß die akademischen Institutionen dem Staat zu Diensten sind, der sie gegründet hat; gleichzeitig wissen wir, daß diese Tendenz in einer demokratischen Regierungsform durch die Autonomie der Universität sowie eine Art Unantastbarkeit gezügelt werden muß, die sie als exterritoriales Gebiet schützt, auf dem Wissen in aller Würde erworben wird. Doch wer wird leugnen, daß es ziemlich schwierig ist, Wissen und Macht voneinander zu trennen? Die erwähnte Tendenz kann auch durch das ganz und gar menschliche Streben befördert werden, zum Ruhm der eigenen Gemeinschaft beizutragen; dann betrachtet es der einzelne als seine Pflicht, die Überlegenheit und die Macht zu teilen, zu der ihn die Nation einlädt, die ihrerseits vom unwiderstehlichen Drang beseelt ist, ganze Kontinente zu erobern.

Von der Macht können sich sogar diejenigen angezogen fühlen, die den Orient als unabhängige Individuen, ohne institutionelle Anbindung bereist haben: Zutiefst von ihrer Freiheit geprägt, zeichnen sie sich als Schriftsteller oder Maler durch ihre Subjektivität und die Dichte ihres Ausdrucks aus, wobei ihr ganzes Sein auf die Sorge um die erste Person ausgerichtet ist, die Exklusivität und einen Platz abseits von ihrer Gemeinschaft beansprucht. In einigen dieser Texte, die von der Erfahrung des Orients Zeugnis ablegen, offenbart das unmerkliche Hinübergleiten vom Singular in den Plural allerdings die Faszination, die das Kollektiv ausübt, dem sich das Subjekt zugehörig fühlt: Es konstituiert sich dann als Teilhaber jener Überlegenheit, die seine gesamte, ganz natürlich gelebte Kultur färbt, welche es verinnerlicht hat, und zwar trotz seiner Neigung zu kritischem Denken und zur Bewahrung der eigenen Einzig-rtigkeit gegenüber dem Herdeninstinkt, der auf das Ich lauert, wenn es sich hinreißen läßt, im Namen des Wir zu sprechen. Nicht einmal die offenherzigsten und freiesten Geister wie etwa Renoir oder Maupassant in Algerien schaffen es, diesen Übergang vom Ich zum Wir zu vermeiden, und so sind sie selbst in der Wahrheit ihrer Faszination durch Land und Leute nicht davor sicher, bei einem gewissen Stolz auf den französischen Triumph in Algerien ertappt zu werden.

Ich wüßte kein weiteres, an diese Schwäche heranreichendes Argument, um meinerseits den Orientalismus zu geißeln. Nie werde ich vergessen, wie überrascht und amüsiert ich war, als ich eines Tages die Schlagzeile der in arabischer Sprache erscheinenden marokkanischen Tageszeitung l-Alam („Die Flagge“) erblickte, die sich in großen schwarzen Lettern über die ganze Breite der Titelseite erstreckte: „Selbst wenn sie die Wahrheit sagen, lügen die Orienta-listen“. Seit ich dieses Paradox vor etwa dreißig Jahren entdeckt habe, steht es für mich emblematisch für diejenigen unter den Muslimen, die sich vom Verdacht gegenüber dem Okzident zu höchster Wachsamkeit angespornt fühlen. Es sei daran erinnert, daß dieses Paradox im Organ der nationalistischen Partei Al-Istiqlal erschien, die stark von der salafistischen Ideologie geprägt ist. Einer der Gründer dieser Partei wie auch der zitierten Zeitung, Allal al-Fassi, war der brillanteste Theoretiker dieser letzten Ausformung des Salafismus, der in seinen reformistischen und fundamentalistischen Anfängen in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Zwischen den Gipfeln des Atlas und den Gestaden des Ozeans hatte er dann diese späten Epigonen, in eben jenen Gefilden, die die Geographie des Islam seit dem Mittelalter mit der äußersten westlichen Grenze identifiziert, was in der Bedeutung des Toponyms „Marokko“ immer noch anklingt.

Das ist der erste Aspekt des Verdachts, den man im Orient gegen den Okzident hegt. Diese Position muß in die Sphäre des Okzidentalismus integriert werden, der sich in seinen vielfältigen Nuancen darin offenbart, wie der Orientalismus von denen aufgenommen wird, die sein Gegenstand und Objekt sind. Alles läuft auf die Bedingungen hinaus, die den Blick ausrichten. Der Okzident betrachtet den Orient. In der Vielfalt der Blickpunkte, zwischen Faszination und Abneigung, entfaltet sich der Orientalismus. Und der Orient bemerkt, daß der Okzident seine Augen auf ihn richtet. Die Beurteilung dieses Blicks führt zur Entstehung des Okzidentalismus mit all seinen vielfältigen Positionen, die von mimetischer Bewunderung bis zu radikaler Zurückweisung reichen. Der Einschätzung des Blicks, den der okzidentale Andere auf das orientalische Ich richtet (Orientalismus), muß man die Art und Weise zur Seite stellen, wie das orientalische Subjekt mit dem Okzident als Frage umgeht.

Inwiefern und wodurch wird der Okzident zu einer Frage, der man sich unmöglich entziehen kann? Über ihre gewaltsame Hegemonie und Expansion hinaus hat die okzidentale Wesensart das materielle Leben durch die technische Revolution verändert. Auf diese Weise tritt auf den Plan, was man die Moderne nennt, die okzidentaler Herkunft ist. Diese Moderne kann sich nur im Bruch einstellen. Durch ihr Entstehen und ihre Ausbreitung, ihre Universalisierung, hat sich der Okzident als Macht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von den anderen großen Zivilisationen gelöst, die bis dahin wenn nicht eine gewisse Überlegenheit, so doch zumindest Gleichheit beanspruchen konnten. Durch die Assimilierung der neuen Wesensart, die aus der wissenschaftlichen Revolution hervorging, die ihrerseits den technischen Wandel bewirkte, hat sich der Okzident immer deutlicher von diesen konkurrierenden Entitäten gelöst. Von nun an wird er nicht nur für den Islam zu einer unumgänglichen Frage, sondern auch für alle anderen Traditionen, für alles, was eine Größe darstellte, die außerhalb Europas wuchs und schwand.

Als die Frage par excellence wird sich der Okzident also nicht nur für den Islam erweisen, sondern auch für China, Indien, Japan, Afrika. Ganz schematisch läßt sich diese Frage doppelt formulieren: Zum einen: Wie die neuen okzidentalen Beiträge assimilieren und sie schließlich selbst hervorbringen, das heißt wie hinter das Geheimnis einer solchen Genese kommen, um sie sich anzueignen? Zum anderen: Wie den eigenen Zeichen, den eigenen Gesetzen und Sitten treu bleiben, gleichzeitig aber auch alle Vorteile aus den neuen Errungenschaften ziehen, nachdem man sie seinerseits wiedererfunden hat? Das ist die große Frage der mimesis des Okzidents, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl als Herausforderung wie auch als Aporie im Raum steht.

Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung, daß es darauf ankommt, Europa und den Islam, Okzident und Orient nicht als Entitäten wahrzunehmen, denen es wie zwei Kontinentalplatten unausweichlich bestimmt ist, aufeinanderzuprallen. Beide werden ihrerseits von einer Teilungslinie durchzogen, die die jeweilige Entität spaltet und rissig werden läßt, im Inneren wie auch in der gegenseitigen Beziehung. Gewiß, ich würde nicht gerade sagen, daß es sich um eine symmetrische Spaltung und Beziehung handelt. Beide entwickeln sich, was Intensität und Dichte, Quantität und Qualität betrifft, unterschiedlich. Hier werde ich mich vor allem damit beschäftigen, was im Islam selbst geschieht und was es mit dem Okzidentalismus im Orient auf sich hat. Sämtliche Positionen, die möglich sind, sind besetzt, bis in die Extreme hinein. Ich werde jedoch schillernde Nuancen beiseite lassen, um mich auf die Konturen jenes radikalen Antagonismus zu konzentrieren, der die Menschen im Orient selbst zwischen Liebe und Haß, Krieg und Frieden spaltet. Ich möchte zu einem Besuch in dieser Gegend einladen, wo innerhalb des Islam eine Art Bürgerkrieg tobt, dessen wichtigster Streitpunkt die Beziehung zum Okzident bleibt.

 

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