LI 92, Frühjahr 2011
Jeder Tag war inszeniert
Krankheit, Einsamkeit, Literatur – Erinnerungen an Thomas BernhardElementardaten
Textauszug
Peter Fabjan: Die Literatur ist nicht meine Stärke.  Wenn ich irgendwo hinfahre, um eine Premiere anzuschauen, muß ich den  Text vorher nicht zwangsläufig gelesen haben, denn ich habe um mich  herum die Forscher des Thomas-Bernhard-Archivs, also Germanisten, Fachleute; als Germanist werden Sie mich nicht beanspruchen dürfen und sollen. (Lacht)
Marek Kedzierski: Ein ungermanistisches Gespräch kann doch viele Anregungen erzeugen, ich möchte das nicht entbehren.
Der Bruder hat gesagt, er habe die autobiographischen Bücher  geschrieben, damit nicht wir es sind – meine Schwester und ich –, die  nach seinem Tod womöglich Auskunft geben, nicht wir befragt werden über  ihn, das wollte er nicht. Wenn es um irgendwas ging, das ist zu seiner  Lebzeit vorgekommen, mich ein Journalist etwas gefragt hat und ich dann  eine arglose Antwort gegeben habe – da hat er zu mir gesagt: „Um Himmels  willen nichts Privates, das ist tabu.“ Ich glaube, es ist nicht falsch,  gewisse Dinge zu klären, den Hintergrund aufzuzeigen, warum etwas so  und so von ihm gekommen ist.
Was heißt: „privat“? Das ist nur eine hauchdünne Linie zwischen  „privat“ und nicht „privat“. Thomas Bernhard hat sehr viel von seinem  Privatleben in seine Bücher …
… hineingenommen, aber das waren Erzählungen. Ich sage nicht: „die  autobiographischen Bücher“, sondern ich sage mit Vorliebe: „die  autobiographischen Erzählungen“. In diesen Büchern hat er die  Wirklichkeit, wie wir sie kennen, wie der Vater sie gekannt hat, so  hineingenommen, wie er wollte, daß sie aufgenommen werden.
Zum Beispiel?
Wenn er von unserer Wohnung in Salzburg erzählt, die ab 1946 von uns  bewohnt wurde, die für acht Personen zu klein war, es waren zwar bald  nicht mehr so viele, aber fünf, sechs, sieben waren wir zu Thomas’  Zeiten immer noch, dann war von ihm geschrieben worden, er mußte in  dieser Wohnung im Vorhaus schlafen. Tatsächlich mußte er im Vorzimmer  schlafen, ein Vorzimmer, wie ein Gang, von dem aus man in die drei  übrigen Zimmer gegangen ist, in ein Bad und eine Küche. Acht Personen!  Der Großvater hat ein Zimmer für sich beansprucht, ein kleines, der  Schriftsteller-Großvater, der Freumbichler, logischerweise, der Vater  mußte sogar eine Polstertür machen, damit er nicht unter dem Lärm der  Familie leiden mußte. Aber die acht Personen haben nur zwei Zimmer zur  Verfügung gehabt. Da waren unsere Eltern, also Mutter, Vater, meine  Schwester und ich in einem Zimmer und in einem anderen, da war der  Onkel. Die Großmutter mußte in der Küche schlafen und Thomas im  Vorzimmer. Es war anders nicht zu machen. Er schreibt nicht: Vorzimmer,  sondern: Vorhaus.
Wie erklären Sie diese Änderung?
Im Vorhaus, außerhalb der Wohnungstür, das ist natürlich eine  Unmöglichkeit. Ich habe es später verstanden, mein Vater konnte das  unmittelbar nicht verstehen, der war wütend. Ich habe das so verstanden,  daß Thomas sich als Außenseiter in der Familie, schon wegen des Namens,  nicht Fabjan, sondern Bernhard, gefühlt hat.
Der Name Bernhard kam daher, daß Anna Bernhard nicht verheiratet war, als sie Thomas’ Mutter bekommen hat.
Richtig, als unsere Großmutter diese Tochter bekommen hat, hat sie  ihr den Namen des ersten Mannes (unserer Großmutter) gegeben, obwohl  diese eine Tochter von Freumbichler war. Und sie hat dann, sie war  damals nicht verheiratet, wieder ihren Mädchennamen benutzt – sie wollte  das offenbar auch nie ändern, oder es war nicht möglich, ihn  umschreiben zu lassen, man hätte sie wahrscheinlich adoptieren müssen,  dann hätte sie Freumbichler geheißen, dann würde Bernhard Freumbichler  heißen. Auch Fabjan, mein Vater, wollte den Thomas Bernhard adoptieren.  Er war aber damals, als er in Seekirchen bei Salzburg geheiratet hat,  sehr jung, man hat ihm von amtlicher Seite mitgeteilt, er sei zu jung,  um diesen Buben zu adoptieren, er solle ein paar Jahre warten, dann  könne er das nachholen. Dann kam der Krieg mit ganz anderen Sorgen,  existentiellen Sorgen, überhaupt durchs Leben zu kommen, und die  Adoption war nicht mehr aktuell. Unser Vater wollte ihn tatsächlich,  zunächst mit der Heirat, wollte das ledige Kind, das er ja auch  mitbetreut hat, er war sehr lieb zu ihm. Also in Wien waren sie schon  zusammen, geheiratet haben sie in Seekirchen bei Salzburg, gegangen sind  sie dann, vor dem Krieg, nach Traunstein, und kaum war er in  Traunstein, wurde er zum Militär geholt, unser Vater, und man hat ihn  nicht mehr gesehen, für ungefähr vier Jahre. Er war hin und wieder auf  Fronturlaub, in Soldatenuniform, und hat sich dann gewundert, er hat  mich, ich war 1938 geboren, zu Hause mit der Mutter vorgefunden und  freudig begrüßt, und die Mutter sagt zu mir – ich konnte gerade  stehen –: „Ja wer ist denn da?“ Und ich schaue ihn an und sage: „Ein  Soldat.“ Vater habe ich nicht erkannt. Er ist auf einen späteren Urlaub  wiedergekommen, und da hat ihn die Mutter kommen sehen, den Vater, in  Uniform, er kommt, große Aufregung, ich bin mit dem Thomas  hinuntergelaufen. Thomas, sieben Jahre älter, war der schnellere. Er war  als erster beim Vater, nicht seinem, sondern unserem, aber der Vater  hat, so wurde das später erzählt, wie er mich kommen sah, die Arme nach  seinem Sohn ausgestreckt, mir, und den Thomas neben sich stehenlassen.  Das waren elementare Erlebnisse, weswegen Thomas sich als Bub  zurückgesetzt gefühlt hat, als Außenseiter.
Um auf das Vorzimmer zurückzukommen …
Er hat geschrieben, wie er seine Situation empfunden hat, damals.  Auch das Vorzimmer, da waren die Türen in der Nacht zu. Er hat das  empfunden, als wäre er außerhalb der Wohnung, und die Empfindung, unter  der er als Kind gelitten hat, konnte er weitergeben, indem er nicht  gesagt hat: Vorzimmer, wie ein weiteres Zimmer, indem er geschrieben hat: Vorhaus,  aus der Wohnung heraus. Seine Darstellung der Realität in der Erzählung  verschärft manches, um zu erreichen, daß der Leser spürt, was er damals  gespürt hat. Entscheidend ist nicht, daß es sich um das Vorzimmer  handelte und er in der Wohnung war; wichtig ist, was er als Kind  empfunden hat.
Er benutzt autobiographische Elemente in jedem Werk. Sehen Sie  einen Unterschied zwischen den biographischen Texten – die fünf Bände  der sogenannten Autobiographie – und den restlichen Texten?
Thomas hat mir gesagt, die autobiographischen Bücher mußte er  schreiben, damit man nicht später von uns erfährt, wie es gewesen ist,  sondern von ihm. Er hat auch gesagt: „Meine Literatur ist es nicht.“ Er  hat es nicht als seine eigentliche Leistung geschätzt; seine Leistung  war für ihn seine Prosa. Nicht einmal seine Theaterstücke hat er so  geschätzt. Wenn ich seine Prosawerke, Romane, lese, fühle ich mich  immer – und dem Vater ging es auch so – angesprochen.
Es scheint, daß es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Thomas-Bernhard-Figuren und Ihnen gibt.
Wenn es in Auslöschung der Johannes ist, hat er zu mir  gesagt: „Lies das, der Johannes, das bist du.“ Das meinte er ernst. Wenn  ich es lese, denke ich mir: Wie konnte er nur so etwas von mir  vermuten, solche Gedanken? Aber ein wesentlicher Teil seines  Grunddefizits war fehlendes Grundvertrauen in die Welt, in seine  unmittelbare Umwelt, da war immer Mißtrauen, und das ist auch dadurch  herauszufühlen, daß er mich sehr analytisch, nüchtern beurteilt hat. Er  hat befürchtet, daß manches bei mir so ist, um sich von mir möglichst  das Gegenteil vorleben, beweisen zu lassen.
In den Werken, die als „Literatur“ gelten, hat er zwar auch  autobiographisches Material verwendet, aber freier. Die Prosa, die  manche Kritiker „Autobiographie“ nennen, hat als Ziel, seine wirkliche  Person zu schildern, sein Leben „authentisch“ vorzustellen. Als er über  sich „autobiographisch“ sprach, fügte er gewisse Dinge hinzu, die  gänzlich fiktiv waren, und umgekehrt, wenn er sich über andere geäußert  hat, hat er sich selbst in diese anderen Personen hineingeschlichen.  Fiktiv oder autobiographisch – er hat manches so dargestellt, wie er  gesehen werden wollte.
Er hat sich stilisiert. Er hat einmal zu unserem Vater gesagt: „Ich  baue an meinem Denkmal. Das ist jetzt meine Aufgabe.“ In privaten  Kreisen hat er solche Sachen ungeniert gesagt. Er hat ein  künstlerisches, aber auch ein künstliches Leben geführt. Bei ihm war  jeder Tag inszeniert von dem Moment an, wo er sich in die Literatur  geflüchtet hat. Oder Zuflucht gesucht hat, weil er gemerkt hat, im  normalen Leben geht er unter.
Diese Künstlichkeit, gab es sie auch, bevor er sich für die Literatur entschieden hat?
Naja, er war ein Gefinkel. Eine vipère, wie man auf  Französisch sagen würde, ein frühreifer Bursche. Wenn er mit mir  gefahren ist, um beim Bauern Milch, Butter oder Eier zu holen, hat er  den Tabak mitgenommen, den unser Vater aus Jugoslawien dem Großvater für  sein Pfeifenrauchen geschickt hat. Und da man gewußt hat, Tabak ist ein  Luxus und das andere Lebensnotwendigkeit, ist er mit mir zu dem Bauern  mit dem Tabak. Ich war ein kleiner, sympathischer Blonder. Thomas hat so  kalkuliert, daß die Frau des Bauern sich für uns einsetzt, damit er uns  mehr dafür geben würde. Daß er mich mitgenommen hat, war nicht reine  Liebe zum Konkurrenten.
(…)
 
   
   
   
  